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Grenzerfahrungen

Teil 2: Als Legasthenikerin hat Paula (22) gleich 26 Barrieren

Illustration: Nadine Redlich

Dass mit mir etwas anders ist, habe ich in der ersten Klasse bemerkt. Alle um mich herum haben wie selbstverständlich lesen und schreiben gelernt. Für mich war Schule eine große Herausforderung. Deshalb habe ich früh Nachhilfe bekommen. Die Probleme blieben, allen Extrastunden zum Trotz. Meinen Eltern war schnell klar, dass es so nicht weitergehen kann. Noch in der ersten Klasse bin ich auf eine Freie Grundschule gewechselt. Dort wurde viel mehr Fokus auf Inklusion und die Entwicklung der kindlichen Kreativität gelegt. Meine Legasthenie war immer noch Thema, aber die Lehrkräfte sind viel verständnisvoller mit mir umgegangen.

Später auf der Gesamtschule habe ich zum ersten Mal einen Nachteilsausgleich bekommen. Das heißt, dass ich für Klausuren mehr Zeit bekommen habe. Manchmal wurden mir in Prüfungen auch Texte vorgelesen, weil meine Lesegeschwindigkeit eingeschränkt ist. Dazu hatte ich Notenschutz: Meine Rechtschreibung wurde nicht bewertet. Das alles hat mir sehr geholfen. Dumme Sprüche von Lehrern („Früher gab es so etwas nicht“) musste ich mir trotzdem gefallen lassen. Es gab einige, die dachten, ich würde die Mittelstufe nicht schaffen.

Meine Freundinnen waren in der Zeit eine große Unterstützung. Ich erinnere mich an eine Chemiestunde, in der wir ein dickes Arbeitsbuch ausgeteilt bekamen. Meine damalige beste Freundin ist mit mir aus dem Klassenzimmer gegangen und hat mir die Aufgabenstellungen in Ruhe vorgelesen. Ich hatte Glück mit meinem Umfeld. Aber als pubertierendes Mädchen fragt man sich natürlich trotzdem: Warum kann ich nicht einfach normal sein?

Meine Legasthenie zeigt sich bis heute in alltäglichen Situationen, zum Beispiel beim Arzt. Den Anmeldebogen auszufüllen ist für mich purer Stress. Ich sitze dann Ewigkeiten im Wartezimmer, weil ich auf dem Handy die Schreibweise vieler Wörter nachschlagen muss. Und bete einfach nur, dass dem Praxispersonal nicht auffällt, wie überfordert ich bin. Auch die Kommunikation mit Freundinnen und Freunden bereitet mir oft Kopfzerbrechen. Andere schicken selbstverständlich WhatsApp-Nachrichten hin und her, da kämpfe ich noch mit der Diktierfunktion. Ich muss gefühlt immer drei Schritte mehr gehen als die anderen.

Dieser Text ist im fluter Nr. 90 „Barrieren“ erschienen

Richtig bewusst wurde mir das wieder im Abi. Das war in der Hochphase der Pandemie. In der mündlichen Mitarbeit war ich immer stark, aber darauf konnte ich nicht mehr setzen: Im Homeschooling haben wir viel mehr Texte bekommen. Für mich ein Horror. Dazu kam, dass die Lehrer viel gestresster und mit der ganzen Situation überfordert waren. Das fing schon bei der Technik an. Einem Lehrer mussten wir ein Mikrofon kaufen, weil er es nicht hinbekommen hat, dass man ihn hört. Ein anderer hat uns ein komplettes Buch eingescannt und als Bilddatei geschickt. Die Sprachsoftware, mit der ich lerne, kann aber nur Textformate verarbeiten. Während Corona habe ich mich oft nicht gesehen gefühlt. Da ist man schnell untergegangen, wenn man anders war.

Trotzdem hatte ich riesiges Glück. Ich konnte mich immer auf meine Familie verlassen und durfte alternative Lernkonzepte kennenlernen. Dass das nicht selbstverständlich ist, merke ich im Austausch mit anderen Legasthenie-Betroffenen. Mobbing und Schulstress sind für viele Alltag. Dabei sind gerade Erfolgserlebnisse wichtig, um sich bei allen Hürden nicht unterkriegen zu lassen.

Mittlerweile organisiere ich Workshops für andere Betroffene und studiere in den Niederlanden Global Sustainability Science, meinen Traumstudiengang. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass wir gesehen und mitgedacht werden – sei es bei Lehrmaterialien, in der Gestaltung öffentlicher Räume oder im gesellschaftlichen Miteinander.

Illustration: Nadine Redlich

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.