Libanon: Mit der Hisbollah im Parlament
Die Hisbollah (Arabisch für „Partei Gottes“) entstand im libanesischen Bürgerkrieg als schiitische Bewegung: teils bewaffnete Miliz, teils Partei. Außerhalb der arabischen Welt gilt die Hisbollah als eine Terrorgruppe unter vielen. (In Deutschland wurde sie gerade erst als islamistische Terrororganisation eingestuft und verboten – unter anderem weil sie zur Vernichtung des Staates Israel aufruft.) Im Libanon aber sitzt die Hisbollah seit 1992 als Partei im Parlament.
Im Islam gibt es verschiedene Glaubensrichtungen. Die größten Gruppen, Sunniten und Schiiten, bekämpfen sich immer wieder heftig. Ihr Streit geht – kurz gesagt – auf die Frage zurück, wer der richtige Nachfolger für den Propheten Mohammed ist. Die sunnitische Mehrheit wählte einen Freund und Weggefährten Mohammeds, die Schiiten hingegen wollten jemanden aus Mohammeds Familie.
In der aktuellen Regierung stellt sie zwei Minister – unter anderem im Gesundheitsministerium, das über eines der höchsten Budgets verfügt. Die Partei unterhält eigene Krankenhäuser und Gesundheitszentren, Schulen, Jugendprogramme und vor allem eine Kampforganisation, die der libanesischen Armee überlegen ist und Israel droht. Mehr als 20 Jahre hatte Israel den Süden Libanons besetzt gehalten, um seine Bürger vor Eindringlingen und Raketenangriffen zu schützen. Diese Rolle als „Widerstandskraft“ gegen Israel hat der Hisbollah enorme Anerkennung verschafft, auch bei Nichtschiiten, erklärt Joseph Daher, Autor und Experte für islamistische Milizen.
Der Aufstieg der Hisbollah gründe außerdem darauf, dass die Schiiten in den 1970er-Jahren eine eigene politische Identität ausbildeten und der mehrheitlich schiitische Iran die Hisbollah massiv unterstützt: Durch die finanziellen und logistischen Hilfen kann die Hisbollah ihren Unterstützern mehr bieten als andere Parteien im Libanon.
Mittlerweile habe im hochkorrupten Land aber auch die Hisbollah Imageprobleme, sagt Daher: „Die Menschen sehen, dass die Hisbollah ihre Leute bevorteilt und öffentliche Aufträge an ihr nahestehende Geschäftsleute vergibt.“ Seit der ersten Regierungsbeteiligung 2005 habe die Politik der Hisbollah nicht wie erhofft aufgeräumt, sondern die neoliberale Ordnung im Land sogar gestützt. Noch weiß die Hisbollah eine Mehrheit der Schiiten hinter sich. Aber eine neue, progressive und einigende schiitische Macht, die aus den aktuellen Protesten oder sozialen Bewegungen hervorgehen könnte, bekämpft die Partei, sagt Daher. „Sie könnte die Macht der Hisbollah gefährden.“
Syrien und Irak: Nach dem „Honeymoon“ mit dem IS
Vorläufer der heutigen Terrorgruppe „Islamischer Staat“ gründeten sich bereits 2003, als Widerstand gegen die US-Militäroperation im Irak. 2013 rief der Terrorist Abu Bakr al-Baghdadi den „Islamischen Staat im Irak und der Levante“ (ISIL) aus: Im Gegensatz zu anderen Kommandeuren wollte al-Baghdadi die Operationen des IS nicht auf den Irak beschränken, sondern auf das Bürgerkriegsland Syrien ausweiten. 2014 verkündete der IS in der nordirakischen Stadt Mossul ein „Kalifat“. Zu Zeiten der größten Ausdehnung beherrschte der IS ein Gebiet mit etwa fünf Millionen Einwohnern.
Der „Islamische Staat“ gründete eigene Ministerien
„Die größte Stärke der Islamisten ist die Schwäche der Zentralregierungen im Irak und in Syrien“, sagt Dr. Renad Mansour vom Thinktank Chatham House in London. Die Menschen in der Region hätten unter der chaotischen Herrschaft von Rebellen, dem massenmörderischen Assad-Regime, schiitischen Milizen oder der Unterdrückung durch die irakische Regierung sehr gelitten, sagt Mansour. Bis sich der IS – besonders „in der Honeymoon-Phase“ zu Beginn – um Sicherheit bemühte, um saubere Straßen und das ökonomische Wohl der Bevölkerungsteile, die ihm folgten. Die Islamisten gründeten auch Ministerien, etwa für islamische Kultur und Landwirtschaft.
Tatsächlich sei der IS aber nie in der Lage gewesen, einen funktionierenden Staat zu ersetzen, sagt Mansour. „Die Straßen zu kehren und ein islamisches Rechtssystem aufzubauen ist verhältnismäßig einfach.“ Zumal der IS dabei noch erbeutetes Geld ausgeben konnte. Als das ausging, mussten die Islamisten die Steuern erhöhen und setzten ihre Herrschaft wieder mittels Repressionen, Massakern und öffentlichen Hinrichtungen durch. „Letztlich“, sagt Mansour, „ist der IS eine bewaffnete Gruppe. Ein Gebiet zu erobern ist eine ganz andere Herausforderung, als es dauerhaft zu beherrschen.“
Seit 2019 gilt der IS als besiegt, zumindest militärisch. Die Bevölkerung im Nordirak sei zunächst froh gewesen über die Rückkehr des Zentralstaats, sagt Mansour. Aber die Hoffnungen auf eine bessere Verwaltung seien früh enttäuscht worden. „Wir sehen, dass der IS deshalb wieder erstarkt.“
Israel/Gazastreifen: Keine Alternative zur Hamas
Die Hamas (das steht für Islamische Widerstandsbewegung) schätzt die EU seit fast zwei Jahrzehnten als Terrororganisation ein: Die Islamisten wollen den Staat Israel mit Gewalt beseitigen und stattdessen einen islamischen Staat errichten. Seit 2006 herrscht die Hamas über den Gazastreifen, ein hart umkämpftes Küstengebiet zwischen Israel und Ägypten, in dem zwei Millionen Menschen dicht gedrängt leben müssen.
Ihre Herrschaft ist durch die Gaza-Blockaden stark beschränkt: Infolge der Machtübernahme der Hamas schotteten Israel und Ägypten das Gebiet ab, um Anschläge und die Einfuhr von Waffen zu unterbinden. Mehr als die Hälfte der Menschen im Gazastreifen lebt laut dem Zentralen Palästinensischen Statistikamt in Armut. Die Arbeitslosigkeit lag schon vor der Corona-Krise bei rund 70 Prozent. Proteste gegen die katastrophalen wirtschaftlichen Verhältnisse – und damit gegen die eigene Herrschaft – schlug die Hamas brutal nieder, zuletzt 2019. Eine echte Opposition duldet sie nicht.
Dabei sind die Herrscher auf Hilfe angewiesen, um die Bevölkerung zu versorgen. So unterhält etwa die UNRWA (United Nations Reliefs and Works Agency) 22 Gesundheitszentren und 276 Schulen in Gaza. Das neutrale UN-Hilfswerk sorgt für die Grundversorgung der 1,4 Millionen als palästinensische Flüchtlinge registrierten Bürger.
In Gaza fehlt es am Nötigsten, weshalb die Hamas viel Geld mit Schmuggelware macht
2017 publizierte die Hamas eine Charta, in der die Gruppe erstmals erklärt, einen palästinensischen Staat an der Seite Israels zu akzeptieren. Nur hätten weder die Hamas noch ihre Rivalen von der gemäßigten Palästinenserpartei Fatah einen Plan, wie dieses Ziel erreicht werden soll, sagt Joseph Daher. „Beide sind mehr daran interessiert, in ihren Gebieten an der Macht zu bleiben.“
Laut dem Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR), das seit bald 30 Jahren Meinungsumfragen unter der palästinensischen Bevölkerung erhebt, hält die Mehrheit der Palästinenser die Hamas und die Fatah für korrupt. Beispielsweise wegen der Schmuggeltunnel nach Ägypten und Israel, an denen die Hamas viel Geld verdient habe, sagt Joseph Daher. Durch Hunderte von Tunneln schmuggeln die Islamisten Waffen nach Gaza – aber auch Gegenstände des täglichen Bedarfs, die sie mit Gewinn und „Zoll“ an die lokale Bevölkerung verkaufen.
Afghanistan: LTE dank der Taliban
Gegründet von afghanischen Flüchtlingen in Pakistan, eroberten die islamistischen Taliban (Arabisch für „Koranschüler“) ab 1994 weite Teile Afghanistans und gewährten Dschihadisten Unterschlupf.
Als sich die Taliban nach dem Attentat vom 11. September 2001 weigerten, Osama bin Laden auszuliefern, griffen die USA Afghanistan an und stürzten das Taliban-Regime. Doch unter der Nachfolgeregierung nahmen die Korruption und die Unterdrückung einzelner ethnischer Gruppen zu. „Das hat die Stimmung im Land kippen lassen“, sagt Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network (AAN). Heute kontrollieren die Taliban wieder die Hälfte des Landes.
Dabei achten die selbst ernannten „Gotteskrieger“ auf die strenge Durchsetzung der Scharia – des islamischen Rechts, das sich aus dem Koran ableitet. Wer gegen die Scharia verstößt, muss mit Ächtung und Gewaltstrafen rechnen. Selbst grausame Strafen wie Amputationen oder Steinigungen empfinden manche als angemessen. Das zeige auch, dass die neue alte Macht der Taliban stark auf Angst gründet, sagt Thomas Ruttig. „Sie werden nicht als Partei gesehen, sondern als militante Gruppierung.“
Gesundheit, Kommunikation, Bildung: ein paar Sachen haben die Terroristen verbessert
Trotzdem basiert die Taliban-Herrschaft nicht nur auf Unterdrückung. „Die politische Ordnung, die die Taliban aufgebaut haben, ist wesentlich umfangreicher und komplexer, als ihnen generell zugeschrieben wird“, beobachtet etwa das USIP, eine US-amerikanische Bundeseinrichtung zur Erforschung gewaltsamer Konflikte. Landesweite Befragungen, die Thomas Ruttigs AAN kürzlich organisiert hat, zeigen beispielsweise, dass grundlegende „Staatsleistungen“ wie Bildung, Telekommunikation und Gesundheitsversorgung in den Taliban-Regionen besser funktionieren. Die Islamisten haben sogar ein Meldesystem für Beschwerden eingeführt. „Wenn die Versorgung stimmt, ist den Leuten letztlich egal, wer an der Macht ist – vor allem nach den langen Jahren im Krieg“, schätzt Ruttig. Im Zuge des Friedensprozesses mit den USA und der Zentralregierung in Kabul sieht er für die Taliban „weiter eine reelle Chance auf die Macht im Land“.
Update, August 2021: Nach dem Abzug der US- und NATO-Truppen haben die Taliban innerhalb weniger Wochen wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Mitte August besetzten sie in der Hauptstad Kabul den Palast des bisherigen Präsidenten Aschraf Ghani, der zuvor ins Ausland geflohen war. Bislang geben sich die Islamisten betont tolerant und offen.
Jemen: Krise als Huthi-Chance
Seit 2015 tobt im Jemen ein Krieg, der häufig als Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und den schiitischen Huthis beschrieben wird, die vom Iran unterstützt werden (was der Iran bestreitet). Aber die Huthi-Miliz – benannt nach ihrem Gründer Hussein Badreddin al-Huthi – ist mehr als nur ein Hilfsarbeiter: Sie hat sich innerhalb weniger Jahre von einer lokalen religiösen Bewegung zur dominanten revolutionären Kraft entwickelt. Seit die Huthis 2015 Jemens Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi ins saudische Asyl trieben, regieren sie den Jemen.
Obwohl die Huthis nicht über die finanziellen und militärischen Ressourcen ihres Kontrahenten Saudi-Arabien verfügen, kontrollieren sie heute ein Drittel des Landes, inklusive bevölkerungsreicher Großstädte. „Politisch haben sich die Huthis geschickt als Alternative zu den etablierten Parteien positioniert“, sagt Dr. Jens Heibach vom GIGA Institut für Nahost-Studien in Hamburg. Schon vor ihrer Machtübernahme hätten die Huthis Unterstützer gehabt, weil sie quasistaatliche Aufgaben in der Rechtsprechung und Sicherheitsfragen übernahmen, sagt Heibach. Nun profilieren sie sich als Kraft gegen Korruption, Dschihadismus und die Aggressionen aus Saudi-Arabien – was die Zahl der Unterstützer noch mal vergrößert habe.
Die katastrophale Lage im Jemen scheint den Huthis nicht zu schaden
Ihre Herrschaft funktioniert über die politische Kontrolle der Justiz und ein System aus Lokalräten: Die Huthis ernennen in jedem Distrikt „Aufseher“, die eigenverantwortlich entscheiden. Im Fokus stehen die Sicherheit und die Rekrutierung neuer Kämpfer. Dabei beteiligen die Huthis zwar die verschiedenen jemenitischen Gruppierungen, aber verfolgen und unterdrücken politisch Andersdenkende.
Den Einfluss der Huthis scheint selbst die fürchterliche Situation im Jemen nicht zu schmälern, den die UN als „schlimmste humanitäre Katastrophe der Welt“ beschreiben. Durch den Krieg, eine Handelsblockade und nun auch die Corona-Krise ist die Versorgungslage katastrophal. Obwohl sich die Huthis gern als Antikorruptionskraft verkaufen, beobachtet Heibach ein System, das ihnen wichtige Ressourcen sichert und so die Macht der Huthi-Miliz festigt. „Ohne die Huthis ist im Jemen kein Staat zu machen.“
Auf dem Titelbild passieren zwei Jungen eine Taliban-Elitetruppe. (Foto: Jim Huylebroek/NYT/Redux/laif)