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„Ich schließe mich lieber der Seite der Hässlichen an“

In ihrem neuen Buch rekonstruiert die Künstlerin und Kuratorin Moshtari Hilal die Ursprünge gängiger Schönheitsnormen – und fordert mehr Mut zur Hässlichkeit

Moshtari Hilal

fluter.de: Frau Hilal, warum haben Sie ein Buch über Hässlichkeit geschrieben?

Moshtari Hilal: Als visuelle Künstlerin beschäftige ich mich schon länger mit Sehgewohnheiten und Schönheitsnormen. In meinen Selbstporträts geht es mir darum, meine Nase und meine Haare positiv aufzuwerten, ihnen eine ästhetische Sprache zu geben. Im Buch stelle ich die Fragen nach dem Warum. Wozu möchte ich überhaupt schön sein? Warum kämpfe ich so sehr dafür, inkludiert zu sein in das, was als schön gilt? Warum hat die Gesellschaft so große Angst vor Hässlichkeit?

Was bedeutet Hässlichkeit für Sie?

In der Kunst heißt es zum Beispiel, Schönheit sei langweilig, weil sie vorhersehbar sei und so vielen Regeln entsprechen müsse. Hässlichkeit dagegen sei unvorhersehbar und unregelmäßig und deshalb interessant. Ich finde, das stimmt. Die Autorin Gretchen E. Henderson, die zur Kulturgeschichte der Hässlichkeit gearbeitet hat, schreibt, Hässlichkeit sei der Gegensatz zu dem, was historisch als schön und richtig wahrgenommen wurde. Wenn jung, weiß und gesund als schön gilt, dann sind ihre Gegensätze weniger schön bis hässlich. Mir geht es darum, welchen Nutzen solche Normen historisch hatten. Wie wurde Hässlichkeit eingesetzt, wie war der Umgang mit denen, die als hässlich markiert wurden?

Welche Antwort haben Sie gefunden?

Schönheit muss selten und besonders sein, also qua Definition nicht von allen erreicht werden können, damit sie begehrt werden kann und kontrollierbar ist. Es geht also darum, eine Hierarchie aufzustellen. Wenn wir vor diesem Hintergrund über das kapitalistische System nachdenken, in dem wir leben, dann sehen wir, dass Schönheit auch in Produkte übersetzt werden kann. Es gibt das Versprechen, dass man sich Schönheit erarbeiten kann, wenn man sich nur genügend Produkte oder Behandlungen kauft. Schönheit ist außerdem mit einem besseren Leben assoziiert, mit mehr Lebensfreude und Erfolg.

„Hässlichkeit stellt infrage, was wir für richtig und erstrebenswert halten“

Häufig ist die Rede vom „Pretty Privilege“: Menschen, die als schön wahrgenommen werden, werden bevorzugt behandelt.

Das öffentliche Urteil fällt oft sehr viel milder aus, wenn Menschen als attraktiv wahrgenommen werden. Aussehen ist ein Privileg und eine Form von Kapital. In diesem Sinne ist Schönheit auch ein Machtinstrument. Sie ist gewaltsam, weil sie immer auch mit Ausgrenzung einhergeht. Wir tun oft so, als sei der Diskurs um Schönheit oberflächlich, so als ginge es nur um persönliche Eitelkeit. Dabei geht die Sache viel tiefer. Eigentlich verhandeln wir in diesem Diskurs Menschlichkeit und den Wert eines Lebens. Im 19. Jahrhundert gab es in den USA und in Europa zum Beispiel Verordnungen gegen vermeintliche Hässlichkeit in der Öffentlichkeit, die in der Forschung zusammenfassend Ugly Laws genannt werden. Hier wurden Körper, die als unansehnlich und störend galten, also arme, kranke, deformierte oder rassifizierte Menschen aus dem öffentlichen Raum verbannt und damit kriminalisiert. Das klingt erst mal sehr archaisch, aber im Grunde machen wir das bis heute.

Was meinen Sie?

Zum Beispiel wenn wir arme Menschen oder Geflüchtete oder Menschen, die mit Obdachlosigkeit zu kämpfen haben, aus bestimmten Räumen entfernen lassen. Wir wollen das, was wir mit Hässlichkeit verbinden, also Armut, Zerstörung und Leid, nicht sehen, weil es unsere Normalität irritiert. Hässlichkeit stellt also auch das, was wir für richtig und erstrebenswert halten, infrage. In Wahrheit sind das aber die Körper von Menschen, die nicht nur ausgegrenzt, sondern auch ignoriert und verneint werden. Die Extremform davon war historisch betrachtet die Eugenik. Abweichendes Leben sollte gar nicht erst geboren werden. Die plastische Chirurgie liegt auf diesem Kontinuum irgendwo dazwischen.

Inwiefern?

Bei der Schönheitskorrektur geht es darum, die Abweichung von der Symmetrie oder einem Ideal zu korrigieren. Korrektur bedeutet also auch Anpassung. Die Geschichte der Nasenoperation ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, auch weil sie so repräsentativ ist.

Welchen Ursprung hat sie?

Da gab es beispielsweise Jacques Joseph, einen der Begründer der modernen plastischen Chirurgie, insbesondere der Nasenkorrektur. Er war ein Berliner Arzt und der Sohn eines Rabbiners, der nach dem Ersten Weltkrieg damit begann, seinem Klientel unter anderem die Korrektur ihrer „jüdisch wirkenden Nasen“ anzubieten. Wir beobachten hier einen Moment, in dem die Verantwortung gegen Diskriminierung anzugehen nicht vom politischen System getragen wird, und stattdessen der Markt individuelle Lösungsvorschläge anbietet. Die Nasenkorrektur ist eine solche vermeintliche Lösung, also das Versprechen, sich optisch zu assimilieren und nicht mehr als jüdisch aufzufallen. Im Englischen gibt es dafür den Begriff „passing“: Wem es gelingt, als zur Norm gehörend durchzugehen, der kann so den Auswirkungen einer diskriminierenden Gesellschaft zumindest auf dem ersten Blick ausweichen. Historisch wurde so ein massiver operativer Eingriff normalisiert, der medizinisch nicht notwendig war.

„Hässlichkeit“ ist ein sehr persönliches Buch. Sie berichten immer wieder von Momenten, in denen Sie selbst als anders oder als abweichend markiert wurden. Ist es Ihnen schwergefallen, darüber zu schreiben?

Es gibt bereits einiges an Forschung zum Thema Hässlichkeit, zum Beispiel zum Thema Fat Shaming, oder auch zu den Auswirkungen von anti-Schwarzem Rassismus oder den Disability Studies. Mir war es wichtig, einen eigenen Ansatz zu finden. Für mich sind dabei Gefühle wie Scham und Angst ganz zentral. Ich beginne mit dem Hass, vor allem dem Selbsthass, mit dem Minderwertigkeitskomplex, der durch den fremden Blick entsteht und der Selbstentfremdung, die damit einhergeht. Ich schreibe über große Nasen und tabuisierte Körperbehaarung, über Krankheit, Alter und Tod und wie das alles mit westlichen Vorstellungen von Gesundheit, Moderne und Frausein in Zusammenhang steht. Ich habe das Buch so geschrieben, wie ich es gerne gelesen hätte, weil mir im medialen Diskurs um Schönheit und Hässlichkeit genau diese Verbindungen gefehlt haben.

Nasen
Moshtari Hilal hat viel auf TikTok recherchiert – zum Beispiel zur Nasenprofil-Challenge. Die Collage stammt wie die anderen Abbildungen aus ihrem Buch „Hässlichkeit“ (Hanser Verlag)

Wie viel Kolonialismus steckt in unseren Schönheitsidealen?

Ich fand es schockierend zu sehen, wie viel wir von Rassentheoretikern übernommen haben, und wie vieles davon bis heute wirksam ist, ohne dass uns die Zusammenhänge bewusst sind. Zum Beispiel die Vorstellung, man könnte Menschen vermessen und dann aus ihrem Aussehen und bestimmten Winkeln und Linien, die ihr Gesicht ausmachen ihre Entwicklungsstufe in Abgrenzung zum Tier ablesen, ihren Charakter oder ihre Intelligenz. TikTok ist ein riesengroßes Archiv für Selbstdarstellung. Für mein Buch habe ich deshalb sehr viel auf der Plattform recherchiert. Dort gibt es zum Beispiel eine sogenannte Nasenprofil-Challenge, bei der die Leute ihren Daumen an der Nase anlegen, um sie zu vermessen. Es geht darum, herauszufinden, ob ihre Nase „perfekt“ ist, oder nicht, also ob sich hinter dem Daumen ein Nasenhöcker verbirgt, oder ob der Nasenrücken entlang des Fingers verläuft.

Was hat das mit Rassentheorie zu tun?

Die Theorie des Gesichtswinkels stammt von einem niederländischen Mediziner namens Petrus Camper aus dem 18. Jahrhundert. Mithilfe von Vermessungslinien hat er die Menschen damals zugeordnet. Der Gesichtswinkel griechisch-römischer Statuen liegt nach Camper bei 90 bis 100. Das gilt als Ideal. Den Gesichtswinkel von Europäern hat er bei 80 festgelegt, also als dem Ideal am nächsten. Der von Menschen aus Asien und Afrika liegt laut Camper bei um die 70 und der eines Affen bei unter 60. Menschen aus Asien und Afrika seien nach dieser Kategorisierung dem Tier also näher als dem Ideal. Wenn die Leute heute auf TikTok ihre Nasen mit dem Daumen vermessen, sind es diese Winkel und die dahinterstehende rassistische Hierarchie, der sie nachspüren. Solche Kategorisierungen finden sich auch in vielen bildhaften Darstellungen wieder.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir die Frage, welche Gesichter Hinweise auf das Böse geben. Früher dachte man, man könne sowas am Gesicht ablesen. Bis heute findet sich das in bestimmten Disney-Charakteren wieder oder in der Art, wie Rollen besetzt werden. Die Darstellungen von Bösewichten sind überwiegend rassistische, oft antisemitische Bilder. Meist haben sie dunklere Haut und Haare und größere Nasen. Die Guten dagegen sind häufig blond, haben im Vergleich hellere Haut und immer eine kleinere Nase.

Welche Chance haben wir, uns solchen Normen zu widersetzen?

Mir persönlich hat das Zeichnen von Selbstporträts und die künstlerische Selbstinszenierung geholfen, eine andere Herangehensweise an mein Aussehen und mein Gesicht zu finden. Um Kontrolle über mein Bild zu erlangen, habe ich nach dem Interessanten gesucht, und weniger nach dem Schönen. Mittlerweile habe ich kein Problem mehr damit, ein Foto von mir im Profil zu sehen. Früher hatte ich da große Hemmungen. Ich habe mich sehr stark mit mir selbst auseinandergesetzt und jetzt ertrage ich mich.

Dieser künstlerische Ansatz steht womöglich nicht allen zur Verfügung.

Eine andere Möglichkeit ist, sich bewusst zu machen, dass die Schönheitsnormen, denen wir nacheifern, nicht natürlich sind, sondern erlernt. Jedes Mal, wenn wir uns selbst oder andere als hässlich betiteln, wenn wir unsere Haut zu dunkel und unsere Oberschenkel zu dick finden, legitimieren wir damit eine Abwertung und Entmenschlichung unserer Körper und der Körper von anderen. Aber wir können unsere Assoziationen und unsere Sehgewohnheiten hinterfragen. Wir müssen nicht unbedingt so weitermachen, nur weil es schon immer so war. Hinterfragen bedeutet auch, bewusst unseren visuellen Konsum von Bildern zu steuern und auszuweiten.

Was fordern Sie also? Dass bestehende Schönheitsnormen diverser werden?

Schönheit funktioniert nur dann, wenn sie für die meisten unerreichbar bleibt. Deshalb ist es ein Trugschluss zu glauben, dass es Schönheitsnormen geben kann, die alle einschließen. Insofern hat selbst diverse Schönheit ihre Grenzen. Ich frage mich eher: Wenn es mir nun gelingt, einen Platz unter den Schönen zu ergattern, auf welcher Seite stehe ich dann? Welchen Sinn hat Schönheit überhaupt, wenn ich sie doch jederzeit wieder verlieren kann, zum Beispiel durch einen Unfall oder durch Alter und Krankheit? Politisch schließe ich mich lieber der Seite der Hässlichen an. Historisch gesehen ist das eine widerständige Position. Die Perspektive der Ausgegrenzten ist eine, aus der man viel lernen kann. Wenn man Ausgrenzung erlebt hat, weiß man, wie sie funktioniert, und versteht, wie man sie nicht reproduziert. Insofern ist das für mich am Ende die erstrebenswertere Position.

Moshtari Hilal ist Künstlerin, Kuratorin und Autorin, sie lebt in Hamburg. Hilal studierte Islamwissenschaft mit Schwerpunkt Gender und Dekoloniale Studien und ist Mitgründerin des Kollektivs Afghan Visual Arts and History sowie des Rechercheprojekts Curating through Conflict with Care.

Fotos: Moshtari Hilal, 2023, Portrait: Prissilya Junewin

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