Thema – Buch

Suchen Newsletter ABO Mediathek

„Es fällt schwer, über etwas zu sprechen, das nicht sichtbar ist“

In ihrem autofiktionalen Roman „Mein einziges Zuhause“ beschreibt Hanna Brotherus, wie sich eine Essstörung durch mehrere Generationen zieht – und trotzdem unsichtbar bleibt

Essstörungen

fluter.de: Frau Brotherus, wenn Sie an Ihre Kindheit in den 1970ern und 80ern zurückblicken: Welches Verhältnis hatten Sie damals zum Essen und zu Ihrem Körper?

Hanna Brotherus: Meine jüngere Schwester und ich haben schon früh den Umfang unserer Armgelenke und Oberschenkel gemessen. Wir haben uns früh für unsere und andere Körper interessiert und dachten damals, das sei normal. Unsere Eltern haben es uns nie anders vorgelebt: In unserer Familie wurden Körper stets kommentiert und bewertet. Meine Schwester war kleiner und dünner als ich, hatte sogar dünnere Haare. Ich fühlte mich immer zu dick. Trotzdem habe ich gern Süßigkeiten gegessen. Wir haben Eis selbst gemacht und uns damit den Bauch vollgeschlagen. Doch irgendwann hat meine Schwester aufgehört zu essen. Da muss sie so zwölf gewesen sein.

Welchen Einfluss hatte die Magersucht Ihrer Schwester auf Sie?

Ich war wütend, dass sie nicht mehr mit mir Eis essen oder die Backreste aus der Schüssel kratzen wollte. Ich war eifersüchtig, weil sie die gesamte Aufmerksamkeit bekam – von meinen Eltern, von Ärzten, von Mitschülern. Irgendwann war sie das dünnste Mädchen in der Schule. Aber natürlich habe ich mir auch Sorgen um sie gemacht. Daher habe ich irgendwann angefangen, umso mehr zu essen.

Sie haben ebenfalls eine Essstörung entwickelt.

Ja, allerdings habe ich das damals nicht so wahrgenommen. Ich wollte meinen Eltern keine zusätzliche Last sein. Ich habe versucht, ein gutes Mädchen zu sein: gute Noten zu schreiben, immer die Hausaufgaben zu machen. Und ich wollte meine Eltern glücklich machen, indem ich aß. Irgendwann habe ich versucht, das mehr zu essen, was meine Schwester nicht mehr essen konnte. Ich saß in meinem Zimmer und habe Schokolade in mich reingestopft und glaubte, dass ich sie damit retten könnte. Doch stattdessen war sie irgendwann so dünn wie ein Strich, und ich wurde dicker. Uns ging es beiden nicht gut in unseren Körpern – doch nur bei ihr sah man eine Krankheit.

„Wir wurden als Mädchen dazu erzogen, immer brav zu sein, niemals wütend. Nach außen sollte unsere Familie aussehen, als hätten wir alles unter Kontrolle“

In Ihrem Roman beschreiben Sie die Essstörung Ihrer Schwester als Familienkrankheit, gar als Familienfluch.

Ich glaube, dass es in unserer Familie gewisse Vorbelastungen gab, die dazu geführt haben, dass meine Schwester krank wurde. Wir wurden als Mädchen dazu erzogen, immer brav zu sein, niemals wütend. Nach außen sollte unsere Familie aussehen, als sei alles schön, als hätten wir alles unter Kontrolle, das wurde uns eingeschärft. Gleichzeitig waren wir beide freie Geister, ich wurde Tänzerin, meine Schwester Designerin. Wir mussten also viel von dem, was wir sagen wollten, unter den Tisch kehren. Während meine Schwester durch die Magersucht Kontrolle über ihren Körper ausübte, verlor ich die Kontrolle über meinen. Dafür habe ich mich sehr geschämt.

Ihr Buch ist offiziell ein autofiktionaler Roman, keine Autobiografie. Trotzdem verarbeiten Sie dort Ihre persönliche Lebensgeschichte. Warum haben Sie diese Form gewählt, um sie zu erzählen?

Ich glaube, dass jeder in meiner Familie seine eigene Wahrheit hat. Mein Bruder erinnert sich etwa anders an unsere Kindheit und unsere Eltern als ich. Ich dem Buch erzähle ich aber meine Wahrheit. Dadurch wollte ich mich meiner eigenen Geschichte stellen, so wie ich sie erlebt hatte. Ich wollte keine Bilder ausschmücken, die ich aus meinem Leben hatte. Ich glaube, dass Kunst aus den Gefühlen eines Künstlers entsteht, sich dann aber mit allem vermischt, was die Fantasie hervorbringt. Meine Geschichte aufzuschreiben und dabei mit imaginären Situationen zu spielen war meine Art, dieses Kunstwerk zu schaffen. Es hat mir geholfen, die Geschichte meiner Familie zu verarbeiten. Trotzdem habe ich einige Dinge überspitzt, manche größer oder kleiner gemacht. Einiges habe ich von den Erfahrungen anderer geliehen. So war es mir möglich, Geheimnisse zu wahren.

mein_einziges_zuhause.jpg

Mein einziges Zuhause
„Mein einziges Zuhause“ ist am 30. Mai im Ullstein Verlag erschienen

Ein großes Geheimnis war, dass Sie schon früh ein gestörtes Verhältnis zum Essen hatten. Wie hat sich das verändert, als Sie begonnen haben, professionell zu tanzen?

Gerade beim Ballett muss man viel vor dem Spiegel stehen und seinen Körper ansehen. Das hat bei mir die Krankheit nur noch mehr getriggert. Tanz war ein Wettbewerb, den die dünnen Frauen gewonnen haben. Sie haben die Komplimente und die Solos bekommen. Daneben habe ich mich gefühlt wie ein Elefant. Wenn ich nicht erfolgreich war, dachte ich, es liege daran, dass ich nicht dünn genug sei. Tagsüber habe ich fast nichts gegessen. Ich hatte einen Kaffee und ein Stück Brot zum Frühstück, anschließend habe ich den ganzen Tag getanzt und vielleicht etwas Ananas und Joghurt gegessen. Spät am Abend gab’s dann nur noch ungezuckertes Popcorn – Hauptsache, wenig Kalorien. Trotzdem war ich weder damals noch in meinem sonstigen Leben je so dünn oder so dick, dass es negativ aufgefallen wäre.

Dieses Essverhalten, das Sie beschreiben, ist – anders als Magersucht – nicht direkt sichtbar. Trotzdem ist es belastend und gefährlich für Betroffene. Wissen Menschen über solche Mischformen der Essstörung Bescheid?

Ich glaube nicht. Es wird zu wenig darüber geredet. Selbst mir fällt es schwer, über etwas zu sprechen, das nicht sichtbar ist. Aber wenn ich Vorträge zu dem Thema halte und die Anwesenden frage, wer Ähnliches erlebt hat, meldet sich fast jeder. Ich habe meine Essstörung jahrzehntelang versteckt und sehr lange gebraucht, um mir einzugestehen, dass ich eine habe. Stattdessen habe ich mir eingeredet, dass es normal wäre, wie ich esse. Erst als meine Tochter selbst Magersucht bekam und mir im Laufe ihres Heilungsprozesses vorwarf, meine Essstörung zu vertuschen, habe ich mich damit auseinandergesetzt.

„Meine Tochter wurde magersüchtig. Und manchmal habe ich Angst, dass die Kinder meiner Kinder ebenfalls an einer Essstörung erkranken könnten“

Das muss schwer gewesen sein.

Ich war verzweifelt, weil ich sah, dass sich das wiederholte, was ich mit meiner Schwester erlebt hatte. In der Klinik gab es Tage, an denen wir als Familie gemeinsam mit meiner Tochter essen sollten. Ich wollte ihr unbedingt zeigen, dass ich normal esse, und habe trotzdem immer weniger gegessen. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass mich niemand verstehen würde, wenn ich mein Geheimnis offenbart hätte. Doch als sie mich damit konfrontierte, konnte ich nicht mehr wegrennen. Ich war tieftraurig, aber auch erleichtert. Es war, als wäre ich jahrelang in einem Tunnel gewesen und konnte nun endlich raus und alles um mich herum klar sehen. Ich bin froh, dass wir nun in der Familie offen über diese Probleme sprechen. Trotzdem habe ich manchmal Angst, dass die Kinder meiner Kinder, sollten sie je welche haben, ebenfalls an einer Essstörung erkranken könnten.

Ihre Tochter ist jetzt 21 Jahre alt. Haben Sie das Gefühl, dass jüngere Generationen prinzipiell anders und besser mit unterschiedlichen Körperformen umgehen können?

Ich kann nur für die Tanzwelt sprechen, und dort habe ich schon das Gefühl, dass es inzwischen wichtiger ist, fit zu sein als dünn. Es geht weniger um die perfekte Körperform als darum, dass die Person ein guter Tänzer oder eine gute Tänzerin ist. Jeder kann tanzen lernen. Als Choreografin arbeite ich mit jungen wie alten Menschen zusammen, mit Kindern mit Behinderung oder mit Menschen mit Fluchterfahrung. Alle haben andere Körper, und gerade diese Mischung ist gut.

Gleichzeitig gibt es – zumindest in Deutschland – Zahlen, die besagen, dass Essstörungen bei Jugendlichen zwischen 2020 und 2021 stark zugenommen haben. Gerade bei Mädchen.

Ich glaube, die Corona-Pandemie hat jungen Menschen sehr zu schaffen gemacht. Viele waren und sind einsam. Und wenn man dann noch ständig am Handy hockt und wenig rauskommt, kann das einen schon sehr belasten.

Was könnte jungen Menschen helfen, die ähnlich zu kämpfen haben wie Sie damals?

Mir hat letztlich geholfen, einen guten Therapeuten zu finden, mit Freunden und meinen Kindern zu sprechen. Ich glaube, wir müssen weniger soziale und sonstige elektronische Medien konsumieren. Wir müssen raus in die Natur, mit anderen Menschen zusammen sein, reden, tanzen, singen, uns umarmen. Wir brauchen andere Menschen gegen diese Ängste und gegen die Einsamkeit. Wir brauchen Liebe und Akzeptanz von anderen – aber zunächst müssen wir lernen, uns selbst zu lieben und zu akzeptieren. Das fällt mir an manchen Tagen leichter als an anderen. Für mich ist es manchmal schwer einzuschätzen, ob ich etwas esse, um anderen einen Gefallen zu tun, oder ob ich esse, weil ich Lust darauf habe und es mir guttut. Außerdem muss ich mich immer wieder neu daran erinnern, dass ich nicht dick bin. Süßes esse ich bis heute nicht. Ich kämpfe immer noch und werde wohl bis ans Ende meines Lebens kämpfen.

Dieses Interview wurde aus dem Englischen übersetzt 

Die Finnin Hanna Brotherus, Jahrgang 1968, ist Regisseurin, Choreografin und Tänzerin. 

Portrait: Laura Malm

Titelbild: Linn Schröder / Sibylle Fendt -- OSTKREUZ 

 

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.