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Stadt mit Kellergeschoss

In Helsinki kann man unterirdisch schwimmen, skaten und Konzerte hören – in Luftschutzbunkern. Warum findet das Leben in Finnlands Hauptstadt auch jenseits der Oberfläche statt?

  • 6 Min.
Helsinki, Bunker

Es ist einiges los an diesem Samstagnachmittag in der Itäkeskus-Schwimmhalle. In einem Becken findet eine Tauchstunde statt, auf deren Ende andere Kinder warten, damit sie endlich auf den Sprungturm dürfen. Daneben ziehen die Erwachsenen stoisch ihre Bahnen. Eine Frau macht alleine vor einem Monitor Aquajogging-Übungen, und in einer kleinen Grotte entspannen sich zahlreiche Leute in einem Heißwasserbecken.

Ein ziemlich normales Schwimmbad also. Bis man seinen Blick von der Wasseroberfläche hebt. Viel Gestein sieht man dann, aber keine Fenster, keine Verbindung nach außen. Durch die kluge Beleuchtung – schneeweiße Wandfarbe und nach oben gerichtete Strahler lassen den Raum höher erscheinen – stellt sich allerdings kein Gefühl von Enge ein.

Bis zu 1.000 Menschen können in dem Schwimmbad im Osten Helsinkis gleichzeitig tauchen, kraulen, rutschen und – wir sind schließlich in Finnland – saunieren. Gebaut wurde die Anlage jedoch für 3.800 Personen, als zweigeschossiger Luftschutzbunker. Und wer genau hinschaut, der findet an einigen Ecken auch ein gleichseitiges blaues Dreieck auf orangem Grund: das internationale Zeichen für Zivilschutz.

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Temppeliaukio-Kirche
Die direkt in den Fels geschlagene Temppeliaukio-Kirche ist eines der beliebtesten Touristenziele Helsinkis

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Kartbahn in einem Bunker
Rainbow Road: Wer braucht schon einen Himmel, wenn sie Kartfahren kann?

Die Itäkeskus-Schwimmhalle ist bei weitem nicht der einzige Ort dieser Art in Helsinki. Unter der finnischen Hauptstadt kann man Hockey spielen, Kart fahren und Experimentalmusik-Konzerte besuchen, es gibt Badmintonfelder, eine 400-Meter-Laufbahn, mehrere Skateboardhallen und sogar einen Kinderspielplatz. Dazu kommen die U-Bahn und unterirdische Straßen, Rechenzentren, Müll- und Geothermieanlagen, mehrere Hundert Kilometer Versorgungstunnel und ein künstlicher, 40 Meter tiefer See, der als Kältespeicher Teil von Helsinkis Energieversorgung ist. Um den Überblick zu behalten, hat Helsinki 2011 als weltweit erste Stadt einen sogenannten Underground Master Plan aufgestellt, der vor einigen Jahren nachjustiert und erweitert wurde.

Für Helsinki gibt es viele gute Gründe, sich nach unten zu orientieren: Sicherheit und Stadtplanung spielen eine Rolle, aber auch Geologie, das Wetter und der Klimaschutz.

Finnland wurde erst 1917 unabhängig von Russland, das seitdem (davon viele Jahrzehnte in Form der Sowjetunion) als großer und potenziell bedrohlicher Nachbar im Osten einen elementaren Bestandteil der finnischen Mentalität prägt: unaufgeregt bleiben, aber auf alles vorbereitet sein. Wozu eben auch gehört, dass jede:r der über 660.000 Einwohner:innen Helsinkis Anspruch auf einen Platz in einem Luftschutzbunker hat. Mehr als 5.500 Anlagen gibt es im Stadtgebiet. Auch zahlreiche Tiefgaragen und U-Bahn-Stationen lassen sich im Notfall schnell umrüsten. Spaziert man unbedarft durch Helsinki, kriegt man von alldem nichts mit. Achtet man darauf, entdeckt man aber immer wieder die blauen Dreiecke auf orangem Grund.

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Spielplatz in einem Bunker unter Helsinki
Bombensicherer Spaß: Auch Trampolinspringen ist im Luftschutzbunker möglich

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Museum Amos Rex von oben
Das 2018 eröffnete Kunstmuseum Amos Rex befindet sich ebenfalls unter der Erde – wenngleich nicht in einem Luftschutzbunker

Rein rechnerisch ist in den Bunkern Platz für mehr als 900.000 Menschen. Sicher ist schließlich sicher – das haben der Ukrainekrieg und die damit verbundenen Entwicklungen der vergangenen zwei Jahre noch mal bestätigt. Die russische Grenze ist nur 200 Kilometer von Helsinki entfernt.

Günstiger als die geografische ist die geologische Situation Helsinkis: Die Stadt steht auf massivem, Abermillionen Jahre altem Granitgestein. Das ist zwar eine harte Nuss für Bohrmaschinen, aber dafür stehen unterirdische Bauwerke äußerst stabil und müssen größtenteils nicht aufwendig gestützt werden wie in sandigen Böden in Städten wie Berlin oder Leipzig. Und: Das ausgehobene Steinmaterial wird anderswo wieder als Baumaterial verwendet.

Dass sich Helsinkis Boden vergleichsweise leicht erschließen lässt, ist aus stadtplanerischer Sicht natürlich dankbar. Das Zentrum der finnischen Hauptstadt liegt auf einer Halbinsel und ist auf drei Seiten von der Ostsee umschlossen; entsprechend wertvoll ist hier Platz. Bereits vor 20 Jahren wurde der zentrale Busbahnhof unter die Erde verlegt. „Der Underground Master Plan wurde vor allem für die Verkehrsplanung geschaffen“, sagt Pasi Rajala, der Stadtplanungsdirektor von Helsinki. „Die Innenstadt wird immer dichter besiedelt, und entsprechend wächst die Bedeutung der Verkehrstunnel.“ Rajala kennt alle Wege und Verbindungen, er kann einen unterirdisch durch die halbe Innenstadt führen. Vor allem der Lieferverkehr solle aus der Innenstadt herausgehalten werden, damit an der Oberfläche die Stadt lebenswert für Passanten bleibe, sagt er. 

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unterirdische Eishockeyhalle
Eishockey ist Nationalsport in Finnland. Doch wie findet man diese unterirdische Halle?

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Eingang zum Luftschutzbunker
Ein Tipp: Auf die orangen Schilder mit dem blauen Dreieck achten. Sie weisen auf Luftschutzbunker hin

Zusätzlich helfe der Master Plan, die potenziale geothermische Energie besser zu erschließen. Denn auf Helsinkis Stadtgebiet soll es 4.000 geothermale Quellen geben. Die durch sie erzeugte Erdwärme ist ein Baustein für Helsinkis Ziel, bis 2030 eine CO2-neutrale Stadt zu sein. Bisher decken sie nur knapp ein Prozent des Wärmebedarfs, irgendwann sollen es 15 Prozent sein.

Der Underground Master Plan sieht den Bau von weiteren Verkehrstunneln vor. Einer davon, für Fahrräder, steht kurz vor der Eröffnung, genau wie ein unterirdisches Fahrradparkhaus mit 900 Plätzen. Radeln unter Tage – für einige mag das etwas klaustrophobisch klingen. Doch in der zweitnördlichsten Hauptstadt der Welt ist die Wahrnehmung mitunter eine andere. Schon im Oktober kann es hier schneien und garstig kalt werden, und es dauert bis in den Mai, bis die allerletzten Schneehaufen geschmolzen sind und die Bäume ihre ersten Blätter tragen. Dazu kommt das im Winter fehlende Tageslicht: Im Dezember und Januar kriecht die Sonne allenfalls für sechs bis sieben Stunden über den Horizont. Wo es draußen derart ungemütlich ist, fällt es nicht schwer, zum Skateboardfahren oder für den Spielplatzbesuch unter Tage zu gehen.

So wächst Helsinki weiter in den Untergrund, und das irgendwann vielleicht auch grenzüberschreitend: Eine Eisenbahnverbindung unter der Ostsee, bis in die estnische Hauptstadt Tallinn, wird längst diskutiert. Mit mindestens 80 unterseeischen Kilometern wäre das der längste Tunnel der Welt.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.