Wie entstehen Schönheitsideale, und wie verändern sie sich? Das fragt die schwedische Comiczeichnerin Liv Strömquist in ihrem neuen Buch „Im Spiegelsaal“. In fünf teils wissenschaftlich orientierten Essays betrachtet sie verschiedene Aspekte von Schönheit und wie sie sich durch digitale Medien verändert haben.
fluter.de: Deine letzten Comics handelten von der Vulva, der Liebe oder dem männlichen Geniekult. Warum jetzt ein Buch über Schönheit?
Liv Strömquist: Während der Pandemie ist mir aufgefallen, dass ich sehr viel Zeit damit verbracht habe, auf Instagram herumzuscrollen. Plötzlich war eine Stunde vergangen, und ich schaute mir den Ex-Freund irgendeines Prominenten an. Man verliert sich in dieser Welt. Es wird zu einem immer größeren Teil unseres Lebens, Fotos von anderen Menschen und deren Gesichtern anzuschauen.
Einer dieser Menschen ist die Influencerin und Unternehmerin Kylie Jenner, der du auch ein Kapitel in deinem Comic gewidmet hast. Warum schauen wir uns ihre Bilder so gerne an?
Der französische Philosoph René Girard geht davon aus, dass es ein grundlegender menschlicher Trieb ist, andere Menschen nachahmen zu wollen. Was noch dazukommt: Wir leben in einer Zeit, in der wir viele individuelle Freiheiten haben, und leben außerdem in einem kapitalistischen System, das uns ständig dazu bringen will, Dinge zu begehren. Aber es ist schwer, sich andauernd zu entscheiden, was man will. Deshalb wählt man jemanden wie Kylie Jenner, ein Vorbild, das die Wünsche für einen kanalisiert. Man sieht sie also an und möchte so aussehen wie sie und die gleichen Dinge haben wie sie. Girard nennt es das „mimetische Begehren“.
Wenn ich so durch meine Timelines scrolle, habe ich das Gefühl, dass dieses mimetische Begehren außer Kontrolle geraten ist.
Ja, und das hat in meinen Augen mit dem Mangel an Sinn und Zweck zu tun, den heute viele Menschen verspüren. All diese Influencer sind dazu da, uns etwas zu verkaufen. Es fehlt vielen in unserer Gesellschaft an einem Traum oder einem Wunsch, der größer ist als der, etwas zu konsumieren.
Warum werden wir auch ein bisschen deprimiert, wenn wir Kylie Jenner ansehen, aber nicht, wenn wir einen süßen Welpen betrachten?
Menschen wie Kylie Jenner sind Vorbilder, aber gleichzeitig sind sie auch Konkurrenz. Und weil sie so perfekt wirken, fühlt man sich ihnen in gewisser Weise unterlegen. Das macht uns traurig oder wütend. Der Welpe ist mit seiner Schönheit dagegen kein Konkurrent.
„Es fehlt vielen in unserer Gesellschaft an einem Traum oder einem Wunsch, der größer ist als der, etwas zu konsumieren“
Kylie Jenner und viele andere Prominente lassen sich heute medizinisch behandeln, um noch perfekter auszusehen. Man könnte also sagen, Schönheit ist nicht mehr nur eine Gabe, sondern eine Leistung. Was folgt daraus?
Der Soziologe Hartmut Rosa sagt, dass das Bezeichnendste an unserer Zeit ist, dass wir alles optimieren wollen. Alles muss zu jeder Zeit kontrollierbar sein. Unsere Beziehung zu unserem eigenen Gesicht und Körper ist ein Projekt. Man schaut sich verschiedene Teile seines Körpers an und denkt darüber nach, wie man sie am besten optimieren kann. Aber wenn man die ganze Zeit von diesen Dingen besessen ist, was ist das dann für ein Leben? Wenn man Schönheit im Alltag erlebt, ist das selten eine kontrollierte Erfahrung. Es ist doch fast immer so, dass man jemanden in einem unkontrollierten Moment ansieht und dann Schönheit erkennt, die oft mit dem inneren Zustand dieser Person zusammenhängt. Man sieht etwas in den Augen dieser Person, und sie wird für einen plötzlich sehr schön.
Immerhin schlagen Frauen als Influencerinnen selbst Kapital aus ihrer Schönheit. Ist das nicht besser, als dass andere daran verdienen?
Als ich ein Teenager war, hatte ich viele Freundinnen, die auf der Straße von Fotografen angesprochen wurden. Die schlugen ihnen vor, sie zu fotografieren und damit berühmt zu machen. Heute ist das anders: Wenn jemand sehr hübsch ist, dann kann diese Person einen Account und eine Fangemeinde haben und davon leben. Das ist eine Machtverschiebung zugunsten der Frauen. Für die Frauen in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren war es schwieriger, zum Beispiel für Marilyn Monroe, eine der am häufigsten fotografierten Frauen ihrer Zeit. Sie blieb abhängig von Fotografen wie Bert Stern, der sie 1962 insgesamt drei Tage lang fotografierte. Kurze Zeit später starb sie an einer Überdosis. Sie wurde Opfer der Umstände. Stern veröffentlichte anschließend alle Bilder dieser Fotosession, auch die, die Monroe vor ihrem Tod noch durchgestrichen hatte.
In Deutschland gibt es Menschen, die sich gerade über Influencerinnen lustig machen. Warum wird ihre Arbeit nicht ernst genommen?
Es gibt diese Art von Shaming, weil Schönheit stark mit dem sozialen Konstrukt von Weiblichkeit verbunden ist. Im Christentum wurde es zum Beispiel als Sünde angesehen, eitel zu sein. Sich der eigenen Schönheit zu bewusst zu sein und sie auch noch einzusetzen wurde als etwas Schlechtes angesehen. Ich denke, das hat damit zu tun, dass Schönheit von vielen als eine inhärent weibliche Macht angesehen wurde.
Fühlst du dich als Autorin unter Druck gesetzt, deine eigene Schönheit zur Schau zu stellen?
Kürzlich war ich in einer schwedischen Morning-Fernsehshow eingeladen und hatte mir dafür die Haare nicht besonders gestylt. Anschließend habe ich sehr wütende E-Mails von den Zuschauern bekommen, nach dem Motto: Warum sieht dein Haar so schlimm aus? (lacht). Ich dachte mir: Ich habe gerade ein Comicbuch gemacht, ich muss mir doch die Haare nicht stylen lassen. Schönheit ist ein zweischneidiges Schwert: Sie kann Macht verleihen, aber gleichzeitig auch schlecht sein, weil es vor allem für Frauen eine Pflicht geworden ist, schön zu sein.
Liv Strömquist, Jahrgang 1978, hat im Alter von fünf Jahren mit dem Zeichnen angefangen. Die studierte Politikwissenschaftlerin lebt im schwedischen Malmö und produziert neben den feministischen Comics, für die sie berühmt geworden ist, seit fast zehn Jahren den Podcast „En varg söker sin pod“, gemeinsam mit der Autorin Caroline Ringskog Ferrada-Noli .
„Im Spiegelsaal“ von Liv Strömquist, übersetzt von Katharina Erben, ist im Avant-Verlag erschienen.