Der neueste Trend 2021: Über Nacht wurden Hobby-Virologen zu Freizeit-Impfstrategen. Jede Lieferung wird kommentiert, jeder noch so kleine Immunisierungsfortschritt vermessen und verglichen. Während man in Israel schon das Licht am Horizont sieht und in Europa um Einigkeit ringt, bleibt die Mehrheit der Länder weltweit der Pandemie wohl länger ausgeliefert. Wir klären die wichtigsten Fragen zur Verteilung der Covid-19-Impfstoffe.
Auf welche Impfstoffstrategie setzt Deutschland?
Ein Virus, das alle trifft, lasse sich von keinem Staat allein besiegen – das erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang Januar. In diesem Sinne ist die deutsche Strategie zur Covid-19-Immunisierung eine europäische, auch wenn die Regierung sich eine Hintertür offen hält (siehe weiter unten). Die EU-Kommission und der beratende „Lenkungsausschuss“ wollen dafür sorgen, dass bis Mitte 2022 alle Bürgerinnen und Bürger der Union mit einem erschwinglichen Impfstoff gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 versorgt sind. Dafür gab die Kommission im Auftrag aller Mitgliedstaaten bisher sechs Abnahmegarantien im Wert von 2,7 Milliarden Euro. Unternehmen, die vielversprechende Impfstoffprogramme entwickelt haben, wird zugesichert, dass sie Geld für die erworbenen Dosen bekommen, auch wenn der Impfstoff niemals zugelassen werden sollte. Die Entwicklung eines Impfstoffs ist komplex und kann Jahre dauern. Wer das Rennen machen würde, war vergangenes Jahr kaum absehbar. Hinzu kam, dass die experimentelle mRNA-Technologie, die etwa Biontech/Pfizer, Moderna und Curevac anwenden, bisher bei keiner anderen Impfstoffentwicklung eingesetzt wurde. Die Bestellung war also eine riskante Wette.
Wie werden die verfügbaren Impfstoffe in Europa verteilt?
Sind die Impfstoffe verfügbar und auch auf EU-Ebene zugelassen, haben alle Mitgliedstaaten der EU gleichzeitig Zugriff auf sie. Verteilt wird entsprechend der Bevölkerungszahl des Landes, Deutschland stehen rechnerisch 18,6 Prozent aller Dosen zu. Innerhalb der Staaten verteilen die Regierungen den Impfstoff, in Deutschland ist das Gesundheitsministerium für die Koordination zuständig. Für Deutschland bedeutet das: Die Impfdosen werden der Bevölkerung entsprechend auf die 16 Bundesländer verteilt.
Wie viele Dosen bekommt die EU?
Von den bisher in der EU zugelassenen zwei Impfstoffen der Unternehmen Biontech/Pfizer und Moderna sind 300 Millionen bzw. 160 Millionen Dosen vorbestellt. Zusätzlich hat die EU mit vier weiteren Pharmaunternehmen Verträge abgeschlossen, zwei weitere sollen folgen. Sollten am Ende alle vorbestellten Impfstoffe die Prüfung der Europäischen Arzneimittel-Agentur bestehen, stünden knapp zwei Milliarden Impfdosen zur Verfügung – also mehr, als für die zweimalige Impfung aller 450 Millionen EU-BürgerInnen nötig wäre. Individuelle Verhandlungen von Mitgliedstaaten mit den Pharmakonzernen sind daher weder rechnerisch nötig noch in der gemeinsamen Strategie vorgesehen – dass es sie dennoch gibt, sorgt in Brüssel für Ärger.
Warum sichert Deutschland sich nicht zusätzlichen Biontech-Impfstoff? Ist doch ein deutsches Unternehmen!
Einfach nach Mainz fahren und bei Biontech Impfstoff für Deutschland sichern – das verstößt gegen die EU-Strategie des gemeinsamen Vorgehens. Dennoch: Ende letzten Jahres hat das Bundesgesundheitsministerium mitgeteilt, dass die deutsche Regierung auf eigene Rechnung 30 Millionen Dosen des Biontech/Pfizer-Impfstoffs geordert habe. Mittlerweile gibt es darüber hinaus eine Option auf 20 Millionen nationale Impfdosen bei Curevac, einem Tübinger Unternehmen, mit dem die EU bereits einen Vertrag abgeschlossen hat, dessen Impfstoff aber noch nicht zugelassen wurde.
Das verschärft den Verteilungskonflikt um den knappen Impfstoff. Offene Kritik kam unter anderem von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, und auch in italienischen Medien war der deutsche „Alleingang“ hitzig diskutiert worden. Deutschland ist dabei kein absoluter Einzelfall: Ungarn erhielt bereits im Dezember rund 6.000 Dosen des zuvor bestellten russischen Impfstoffs Sputnik V.
Geht die Impfstoffstrategie der EU auf?
Eine gemeinsame Strategie sichert besser gegen Misserfolge ab, streut die Risiken und bündelt die Investitionen – das ist die Idee. Jetzt aber, da reiche, unabhängig agierende Länder wie die USA, Israel, Kanada, Großbritannien oder Japan deutlich mehr Impfstoff zur Verfügung haben als Deutschland, werden Zweifel laut. Viele Beobachter sagen, die EU hätte vorab nicht nur 300 Millionen, sondern das Maximalangebot von 500 Millionen Impfdosen bei Biontech bestellen müssen – auch wenn es einer der teuersten Impfstoffe ist und die Zulassung des neuartigen mRNA-Produktes zum Zeitpunkt der Bestellung nicht absehbar war. Dieses Risiko aber wollten im Herbst 2020 vorwiegend osteuropäische EU-Länder nicht mittragen. Sie hatten auf einen herkömmlich produzierten, günstigeren Impfstoff gewettet.
Wer setzt eigentlich den Preis für die Impfstoffe fest?
Der Preis wird zwischen Hersteller und Abnehmer ausgehandelt. Der Wettbewerb um die Medikamente ist groß, entsprechend hoch sind die Preise. Offiziell ist zu den EU-Preisen nichts bekannt, denn die Verträge sind vertraulich. Das bedeutet auch, dass das Europäische Parlament diesen Prozess nicht kontrollieren kann – zum Missfallen der Abgeordneten. Eine belgische Politikerin legte versehentlich offen, dass eine Dosis von Moderna und Biontech/Pfizer um die 15 Euro kostet und von AstraZeneca, einem herkömmlich produzierten Impfstoff, weniger als 2 Euro.
Wann könnte Deutschland durchgeimpft sein?
Insgesamt sollen in Deutschland 2021 rund 140 Millionen Impfdosen von Biontech und Moderna zur Verfügung stehen. Allein die Lieferung dieser beiden Hersteller könnte ausreichen, um eine „Herdenimmunität“ zu erzielen. Wie lange es dauert, bis ein Großteil der Bevölkerung gegen Covid-19 geimpft ist, lässt sich nicht seriös prognostizieren – auch wenn der Gesundheitsminister jedem Bürger ein Impfangebot bis zum Sommer in Aussicht gestellt hat. Ob das klappt, hängt eben auch maßgeblich von der Organisation der Verimpfung in Deutschland ab.
Welche Strategien verfolgen andere Länder?
Betrachtet man die Menge der Impfdosen pro 100 Einwohner, sieht man, dass das kleine Land Israel die Liste deutlich anführt: Laut dem israelischen Gesundheitsministerium haben rund 30 Prozent der Bevölkerung die erste Dosis des Biontech/Pfizer-Impfstoffs erhalten. Bei diesem Tempo könnte das Land bereits im Frühjahr eine überwiegende Immunisierung erreicht haben. Die israelische Regierung hatte sich frühzeitig mehrere Millionen Dosen des Impfstoffs für ihre neun Millionen Einwohner gesichert und mit dem Einkauf bei Biontech/Pfizer auf das richtige Pferd gesetzt. Ein weiterer wichtiger Faktor für den Erfolg der Impfkampagne: Während im deutschen Gesundheitssystem Corona-Infektionen teils noch per Fax gemeldet werden, hat Israel ein weitgehend digitalisiertes zentrales Gesundheitssystem. Es sorgt für eine übersichtliche Datenbasis, die eine enge Überwachung der Schnellimpfung sicherstellt – ein großer Vorteil für die schnelle Verteilung, da die zweimalige Vergabe der wärmeempfindlichen Impfstoffe gut koordiniert sein muss. Allerdings gilt eine solche Zentralisierung von Gesundheitsdaten als datenschutzrechtlich bedenklich.
Eine andere Strategie verfolgen einige Länder der Südhalbkugel: Weil etwa Südkorea, Vietnam und Australien die Ausbrüche des Virus derzeit mit ausgefeilten Schutz- und Hygienekonzepten unter Kontrolle haben, scheint den politisch Verantwortlichen die Impfung gegen Covid-19 dort weniger dringlich. „Wir kommen mit Covid-19 relativ gut zurecht, sodass wir nicht überstürzt mit der Impfung beginnen müssen, wenn die Risiken noch nicht verifiziert sind“, sagte der südkoreanische Gesundheitsminister Park Neung Hoo bereits Anfang Dezember 2020. Am 14. Januar meldete das Land 513 neue Fälle – Tendenz fallend.
Wie stehen die Chancen für ärmere Staaten?
Kurz gesagt: sehr schlecht. Zwei Drittel der Weltbevölkerung müssen auf eine Impfung voraussichtlich noch bis zu drei Jahre warten. Das Rote Kreuz fürchtet, dass rund 60 Millionen Menschen in Kriegsgebieten überhaupt nicht geimpft werden können. Die EU-Kommission hatte bereits im August 2020 angekündigt, Garantien in Höhe von 400 Millionen Euro für eine internationale Impfstoffallianz COVAX zu geben, um auch ärmere Regionen mit Impfstoffen versorgen zu können.
Zielführender als eine finanzielle Hilfestellung könnte jedoch sein, das Know-how für die Impfstoffherstellung offenzulegen, wie es Indien und Südafrika bereits im Oktober 2020 in einem Antrag an die Welthandelsorganisation gefordert haben: Der Patentschutz auf die Technologie zur Herstellung der Covid-19-Impfstoffe sowie auf Produkte für die Vorbeugung und Behandlung von Covid-19 sollte bis zum Ende der Pandemie ausgesetzt werden, damit unter anderem günstigere Nachahmerpräparate produziert werden könnten. Akteure wie die USA und Kanada sowie die EU lehnen diesen Vorschlag jedoch ab, weil dadurch der Investitionsanreiz in die teure Impfstoffentwicklung geschmälert würde.
Die Fotos wurden im Impfzentrum Liederhalle in Stuttgart gemacht. Sebastian Lock/Die Zeit/laif