Im Jahr 2023 wurde Harrison Ford beim Cannes-Festival andächtig mit Ovationen gewürdigt, nachdem er sich als Indiana Jones erneut den Filzhut aufgesetzt hatte und mit Peitsche und Lederjacke auf Schatzsuche und Nazijagd gegangen war. Dabei war der Charakter, den George Lucas und Steven Spielberg mit dem Film „Jäger des verlorenen Schatzes“ im Jahr 1981 zum Leben erweckten, schon beim Erscheinen des vierten Teils 2008 ein wenig aus der Zeit gefallen. Der fünfte Film machte 2023 dann nicht mal mehr einen Hehl daraus, dass Indiana Jones schon lange kein schneidiger, agiler Frauenheld vor beeindruckender Kulisse mehr ist, sondern ein Mann mit Unterhemd, der mit dem Älterwerden nicht klarkommt.
Dennoch wagt „Indiana Jones und der Große Kreis“ des US-amerikanischen Spieleentwicklers Bethesda jetzt den Schritt zurück. Das aufwendig produzierte Abenteuer-Videospiel lässt Spielende in die Haut von Indiana Jones schlüpfen, der eine überzeugende Ähnlichkeit mit Harrison Ford hat.
Indiana Jones’ Widersacher ist hochintelligent, brutal und skrupellos
Oberflächlich ist dem Studio dabei ein famoses Spiel gelungen, das mindestens 15 Stunden mit zahlreichen Quests, Kämpfen und Rätseln an verschiedenen Orten das nostalgische Fan-Herz höherschlagen lässt und die Atmosphäre aus den Filmen gekonnt ins Medium Videospiel überträgt. Auch die Handlung ist dem Umfang des Spiels angemessen breit erzählt. Der Titelheld ist im Jahr 1937, also zwischen den Filmabenteuern „Jäger des verlorenen Schatzes“ und „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“, auf der Suche nach magischen Steinen, die in Artefakten auf der Welt verteilt sind. Die Stätten dieser Artefakte bilden auf dem Globus einen perfekten Kreis.
Doch ist deren angeblich göttliche Macht auch für die Nationalsozialisten von großem Interesse: Mit dem Archäologen Emmerich Voss schicken die Entwicklerinnen und Entwickler des Spiels einen machtbesessenen Antagonisten auf Raubzug. Er wird zunächst im Vatikan, dann in Gizeh und Sukhothai von Indiana Jones und der italienischen Journalistin Gina Lombardi bei seinen Ausgrabungen gestört. Voss beutet die Bevölkerung für sich aus, verschiebt Grenzen und geht auch über Leichen, um an die Steine zu kommen. Indiana Jones’ Widersacher ist hochintelligent, brutal und skrupellos.
Kolonialismuskritik? Fehlanzeige
Auffallend ist, wie stark Voss in „Der Große Kreis“ als umfassender Gegensatz zu Indiana Jones inszeniert wird. Jones bemüht sich um Gespräche mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der Dörfer, geht respektvoll mit Kulturgütern um und nimmt die Herausforderungen seines Weges würdevoll an, statt wie die Nazis mit schwerem Gerät halb Ägypten umzupflügen.
In dem Bethesda-Spiel findet die Abgrenzung von Gut und Böse nicht etwa durch eine kritische Gegenüberstellung von Kolonialismus und Antikolonialismus statt, sondern durch die ideologischen Beweggründe, wegen derer der Raub begangen wird. Dass in beiden Szenarien Kulturgut gestohlen wird, scheint bei dieser moralischen Rechnung keine Rolle zu spielen. Fakt ist aber: Zumindest mit Blick auf seinen verinnerlichten Kolonialismus ist Indiana Jones keinen Deut besser als sein Gegenspieler. Beide agieren nach denselben Kategorien: Ein Land wird „genommen“, aufgeteilt und ausgebeutet. So wie auch der europäische Kolonialismus auf dem afrikanischen Kontinent die Landesgrenzen reißbrettartig aufteilte.
Nun verschiebt Indiana Jones in „Der Große Kreis“ zwar keine Landesgrenzen, doch er fliegt in andere Länder – vermeintlich „exotische“, die wirtschaftlich und politisch schlechter dastehen als seine Heimat, die USA, und mehrheitlich von nicht weißen Menschen bewohnt werden – und plündert sie aus. Kein Tempel, keine Höhle ist sicher vor dem Archäologen. Er entfernt Kulturgüter, die von großem Wert für die einheimische Bevölkerung sind und heute geschützt wären, aus ihrer sicheren Umgebung, um sie zu erforschen und „zu bewahren“. Indiana Jones’ berühmter Satz „Es gehört in ein Museum!“ scheint auch zum Motto für das Spiel geworden zu sein. Dass die Artefakte womöglich nicht in ein westliches Museum, sondern in die Länder gehören, aus denen sie stammen, kommt hier nicht zur Sprache.
Indiana Jones ist schließlich der Gute. Die Nazis, sei es im Videospiel oder den renommierten Filmen, gehen in ihrem kolonialen Denken noch einen Schritt weiter. Sie wollen die Kulturgüter nicht nur, wie es Jones vorgibt, ehren und beschützen, sondern zum eigenen Profit nutzen – für die Weltherrschaft.
So werden Indiana Jones’ Raubzüge im Spiel zur löblichen Tat. Er rettet die Welt! Kolonialismus für den guten Zweck? Eine Sichtweise, die im Zuge heutiger Debatten sehr fragwürdig erscheint, selbst wenn es „nur“ um ein Computerspiel geht. Insbesondere weil andere Abenteuer-Videospiele wie „Tomb Raider“ in der Vergangenheit gezeigt haben, dass es auch anders geht. Sie adressieren die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung und lassen ihre Charaktere mit der Schuld leben, eine Sintflut oder einen Erdrutsch ausgelöst zu haben.
Der Durst nach Abenteuer
Indiana Jones macht sich währenddessen von jeglicher Verantwortung frei – und wird weiterhin als Held stilisiert. Für ein Videospiel aus dem Jahr 2024 klingt das rückschrittlich statt innovativ. Dem Erfolg von „Indiana Jones und der Große Kreis“ tut das aber keinen Abbruch: Das Spiel wurde am Erscheinungstag über 12.000-mal auf der Videospiel-Plattform Steam abgerufen.
Was also fasziniert Menschen so an Abenteuerspielen? Vermutlich die Möglichkeit, eine fortlaufende Geschichte in appetitlicher Schnelligkeit zu erleben. Indiana Jones muss jetzt handeln. Er muss im richtigen Moment die Peitsche schwingen, Rätsel lösen und sich einen Wettlauf gegen die Zeit mit seinen Widersachern liefern. Außerdem, ganz klar: Nostalgie; die gute alte Zeit der 80er und 90er, als die Welt noch mehr oder weniger in Ordnung war – zumindest in der Retrospektive. Die schwarz-weiße Heldengeschichte lässt das Leben einfach erscheinen. Lange abwiegen, was nun richtig oder falsch ist, muss man hier nicht. Was zählt, sind Taten. Das Spiel erlaubt nicht nur, sich mächtig, sondern in erster Linie selbstwirksam zu fühlen – ein Empfinden von Kontrolle, nach dem sich viele Menschen in solch komplexen Zeiten sehnen.
Und mal ehrlich, das ist ziemlich verständlich. Als Abenteurerin oder Abenteurer fühlt man sich schließlich verdammt lebendig. Diesen Kitzel bekommt auch Indiana Jones zu spüren, der aus der Rolle des bebrillten Archäologen in die des mutigen Globetrotters schlüpft. Eine Verwandlung, die den Durst nach Wanderlust stillt. Spielende teilen diesen Drang, und die digitale Welt bietet Möglichkeiten, ihm nachzukommen. Mittendrin zu sein, erlaubt den Spaß am Eskapismus. Der sei allen Indy-Fans gegönnt. Doch man darf sich die Frage stellen: Wie cool ist so ein Kulturgut klauender Action-Archäologe wirklich?
Fotos: Bethesda Softworks