Friedensdörfer bauen sich nicht von allein, schon gar nicht im Nahen Osten. Was klingt wie eine Binsenweisheit, ist am Ende nicht so trivial. Der Staat Israel ist auch als Reaktion auf das wohl größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte entstanden, den Holocaust. Kriege in der Region sind nicht selten, und selbst innerhalb der israelischen Gesellschaft schien Konsens seltener als Dissens. Doch Terror und Krieg sind etwas anderes als Streit. Streit kann produktiv sein, sogar befreiend. Aber er ist auch Arbeit, und er will gelernt sein. 

Wohl kaum irgendwo wissen sie das besser als in Newe Schalom/Wahat al-Salām. Schon der sperrige Name lässt erahnen, dass hier nicht alles einfach ist. Newe Schalom ist Hebräisch, Wahat al-Salām Arabisch. Beides bedeutet: Oase des Friedens. Das Dorf liegt auf einem Hügel etwa auf halber Strecke zwischen Jerusalem und Tel Aviv, nicht viel drum herum, keine religiösen oder kulturellen Stätten, um die es sich streiten ließe. Es gibt ja genug andere Themen.

Miteinander, nicht nur Nebeneinander

Gut 360 Einwohner hat das Dorf, das sind ungefähr 100 Familien, zu gleichen Teilen jüdisch und arabisch. Das ist kein Zufall, sondern die Essenz des Projekts, das es seit den Siebzigern gibt und das seitdem wächst. Es gibt keine religiösen, ethnischen oder kulturellen Mehr- und Minderheiten, alle zählen gleich. Hier wollen sie zeigen, dass ein Miteinander möglich ist, nicht nur ein Nebeneinander.

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Samah Salaime
Schwierig heißt nicht unmöglich: Roi Silberberg ist Jude, Samah Salaime Palästinenserin. Beide wohnen in Newe Schalom/Wahat al-Salām

Seit die Hamas am 7. Oktober 2023 mindestens 1.200 Israelis, Jüdinnen und Juden, Frauen, Kinder und Alte ermordete, folterte und schändete und seit die israelische Armee als Antwort den Gazastreifen in den Erdboden bombt, kommen sogar die so dialogerfahrenen Dorfbewohner an ihre Grenzen.

Einerseits sind da die jüdischen Einwohner. Sie fürchten den Terror und die Hamas. Viele kennen jemanden, der enge Freunde oder Verwandte bei den Anschlägen verloren hat. Israel ist ein kleines Land. Andererseits sind da die arabischen Einwohner. Sie sorgen sich um Angehörige im Gazastreifen und fürchten, in Israel zum Ziel von Anfeindungen zu werden. All diese Gedanken sind nachvollziehbar, aber die Sorgen der einen sind eben nicht die der anderen. Und so wird es schwieriger, einander zuzuhören. Was sie hier besser verstanden haben als andere: Schwierig heißt nicht unmöglich.

Also fanden seit dem 7. Oktober mehrere Versammlungen in der Gemeinde statt. Zunächst „uninational“, wie sie es nennen. Dann treffen sich die beiden Gruppen getrennt voneinander. Nicht, um einander auszuschließen, sondern damit die mit den gleichen Nöten sich erst mal verständigen können. Das ist die Grundlage für gemeinsame Treffen. „You can’t unite in suffer“, beschreibt Samah Salaime das.

 

Salaime ist Palästinenserin und kam 2000 ins Dorf. Sie zog aus Ostjerusalem her, als gerade die zweite Intifada losging, eine über Jahre anhaltende Welle an Terroranschlägen radikaler Palästinenser in Israel und den besetzten Gebieten. Salaime habe ihrem Kind eine bessere Erziehung bieten wollen, kein Schulsystem, das Araber und Juden von Kindheit an trennt. „Wir werden Probleme nur gemeinsam lösen können“, sagt sie. Im Dorf gibt es keine Synagoge und keine Moschee, die jüdischen und die arabischen Kinder gehen – anders als üblich in Israel – gemeinsam zur Schule.

Roi Silberberg, breites Kreuz, weiches Gesicht und leuchtend pinkfarbene Sneaker, ist vor zweieinhalb Jahren mit seiner Familie hergezogen. Er ist Jude und leitet die School for Peace im Ort. Dort lernen Erwachsene in Seminaren, sich miteinander auszutauschen und heute auch: miteinander zu trauern. Silberberg selbst besuchte ein solches Seminar 2006 und fand vor allem die Methodik beeindruckend. „Als Erstes musste ich verstehen, dass ich Verantwortung habe. Für meine Gruppe und für mich selbst. Und dass ich von manchen Dingen profitiere, selbst wenn ich nicht einverstanden mit ihnen bin“, erinnert er sich. Als er sich damals auf das Seminar bewarb, bekam er die Zusage unter der Bedingung, dass er einen arabischen Teilnehmer mitbringen müsse. Er ging an seiner Uni auf die Suche. Die strenge Parität führte zu einem Austausch, bevor der Kurs überhaupt angefangen hatte.

Das Misstrauen im Dorf ist gewachsen

Silberberg, Salaime und all die anderen im Dorf beschreiben die vergangenen Monate als schwierig. Silberberg sagt, denjenigen, die sonst nicht so viel diskutieren, fiele es heute noch schwerer, weil das Misstrauen gewachsen sei. Aber er habe auch erlebt, wie stark der Wille bei allen sei, sich in diese Partnerschaft einzubringen. Einer der Bewohner initiierte nach den Anschlägen der Hamas einen eigenen Podcast, um das Dorf enger zusammenzubringen. Und Samah Salaime sagt: „Wenigstens hat seit Beginn des Krieges niemand das Dorf verlassen.“

Der Druck kommt jedoch nicht nur von innen. Journalisten interessieren sich seit Kriegsbeginn wieder vermehrt für das Projekt, das macht es für die Bewohner nicht einfacher. Es gibt ein gewisses Misstrauen gegenüber Reportern. Zu oft sei man nicht richtig verstanden worden, sagt ein Mann im Café. Und: Die verbindende Botschaft, die von Newe Schalom/Wahat al-Salām ausgeht, wird nicht von allen da draußen als etwas Positives gesehen. Es gab schon Brandanschläge, auch auf die School for Peace. Manche Menschen wollen einfach keinen Frieden.

Dieser Text ist im fluter Nr. 91 „Streiten“ erschienen

Die Sicherheit bleibt eines der bestimmenden Themen im Dorf. Die Zufahrt ist mittlerweile durch ein Stahltor verschlossen, manche Bewohner meldeten sich freiwillig, um Wache zu schieben. Fremde kommen nicht unbemerkt hinein. Auch darüber gab es Debatten im Ort, manche waren dagegen, um sich nicht wie israelische Siedler abzuschirmen, andere waren dafür, aus Sicherheitsgründen. Ihre Argumente gewannen diesmal.

Das Tor ist vor allem für Autos gedacht, nicht das gesamte Dorf ist eingezäunt. Es gibt einen kleinen Parkplatz nicht weit vom Eingang. Hier liegen einem die Mandelbäume in den Hängen zu Füßen. Bei klarer Sicht kann man die Skyline von Tel Aviv fast erkennen. Wenn es dämmert, sehen sie hier manchmal, wie sich die Raketen der Hamas und des israelischen Iron Dome in der Luft treffen und explodieren. Ein sinnloses, tödliches Feuerwerk. Und eine Erinnerung daran, warum Projekte wie dieses wichtig sind, selbst wenn es nicht immer leicht ist

Titelbild: Piero Oliosi/Polaris/laif

© Zeit Online, November 2023 (aktualisiert)