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„Dieser Ort bringt das Schlimmste in einem hervor“

Kate Beaton hat zwei Jahre in den Ölsanden Nordkanadas gearbeitet. Ein Gespräch über ihren Comic „Ducks“, in dem sie diese Zeit verarbeitet und von einem Ort erzählt, der von Diskriminierung, Umweltzerstörung und Ausbeutung geprägt ist

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Graubrauner Schlamm, so weit das Auge reicht. Dazwischen gigantische Trucks, Industrieanlagen – und Arbeitercamps. Das sind die Ölsande von Alberta. Nach ihrem Studium zog die kanadische Comicautorin Kate Beaton 2005 mit Anfang 20 gen Westen, um Arbeit zu finden und ihre Schulden abzuzahlen. Zwei Jahre arbeitete Beaton in der Werkzeugausgabe unterschiedlicher Camps in den Ölsanden. Und erlebte dort alltäglichen Sexismus, sexuelle Übergriffe – unter anderem eine Vergewaltigung –, aber auch Männer, die sich einsam zu Tode arbeiteten. Ihre Erinnerungen an diese Zeit sind nun auf Deutsch erschienen.

fluter.de: Ihr Comic heißt „Ducks – Zwei Jahre in den Ölsanden“. Was sind die Ölsande?

Kate Beaton: Sie sind ein großes Ölvorkommen in Alberta, in Nordkanada. Aber es handelt sich nicht um flüssiges Öl, sondern um eine Substanz namens Bitumen. Man sagt Ölsand dazu, weil das Bitumen mit der Erde vermischt ist. Um es aus dieser Erde zu gewinnen, braucht es chemische Prozesse und viel Hitze. Ein energieintensiver Vorgang mit einem großen CO2-Fußabdruck, der außerdem sehr teuer ist. Es ist ein „kontroverses“ Öl. Aber wenn die Ölpreise auf einem Rekordhoch stehen, dann ist es dennoch profitabel für Unternehmen, es zu fördern.

Wenn man die Ölsande googelt, findet man Bilder höllischer Nicht-Landschaften. In Ihren sanft verlaufenen Zeichnungen sehen sie manchmal fast magisch aus.

Es gab solche Momente, während ich dort war. Momente, die sich anfühlten, als sei man auf einer Mondbasis. Mit all diesen hoch aufragenden Strukturen aus Licht und einem großen offenen Himmel darüber. Aber meistens nimmt man einfach nur Dreck wahr. Auch in der Luft. Überall nur brauner Schlamm.

 
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Die Ölsande sind das drittgrößte Rohölvorkommen der Welt – nach Ölfeldern in Venezuela und Saudi-Arabien. Welche Rolle spielen sie für die kanadische Gesellschaft?

Sie haben einen gigantischen Einfluss auf die kanadische Gesellschaft. Die Ölsande sind ein wirtschaftlicher Motor des Landes. Sie dominieren die Provinz Alberta, wo sich alles um Öl und Gas dreht. Und der Rest Kanadas ist damit ökonomisch verwoben. Aber die Ölgewinnung ist auch gefährlich. Wegen des ökologischen Schadens, der da entsteht. Es gibt Widerstand gegen die Ölsande und die Pipelines. Doch die Ölunternehmen haben einen großen politischen Einfluss, sie sind diejenigen mit dem Geld und den Jobs.

In Ihrem Buch erzählen Sie, wie Arbeiter*innen aus dem ganzen Land in die Ölsande kommen, um Geld zu verdienen.

Das ist tatsächlich so. Die Ölsande berühren die Leben aller Menschen in Kanada. Aber an der Frontlinie steht die indigene Bevölkerung, die first nations. Als die ersten Unternehmen in den Sechzigerjahren in die Ölsande kamen, gab es keine ordentliche Diskussion mit den indigenen Gemeinschaften, die dort lebten. Stattdessen wurden Versprechen gegeben, die dann gebrochen wurden.

Die zwei Jahre, die Sie in den Ölsanden gearbeitet haben, lesen sich im Comic auch wie die Geschichte einer politischen Bewusstwerdung.

Als ich dort ankam, war ich 21, hatte einen Uni-Abschluss, dachte, ich sei smart und gebildet, aber ich wusste nichts. In den ersten Tagen habe ich mich wie ein Reh im Scheinwerferlicht gefühlt. Diese Flut von langen Arbeitstagen, die Belästigungen als Frau in dieser Männerwelt, die Anstrengung, einfach nur den Kopf über Wasser zu halten. Erst im zweiten Jahr war ich in der Lage, mir des Kontextes bewusst zu werden, in dem ich arbeitete. Das Leben der anderen wahrzunehmen. Den größeren Zusammenhang von Arbeiter*innen, Unternehmen, Klasse und Macht.

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Im Nachwort von „Ducks“ schreiben Sie, dass die Ölsande „entweder als absolut gut oder absolut schlecht“ beschrieben werden. Ihnen selbst gelingt es, ein komplexes Bild der Menschen dort zu zeichnen, überwiegend sind es Männer. War es schwer, so viel Empathie aufzubringen in Anbetracht der Diskriminierung und des Missbrauchs, den Sie selbst dort erfahren haben?

Nein, überhaupt nicht. Man verbringt Tage und Nächte mit diesen Leuten. Natürlich, es gibt viele, die ich nie wiedersehen will. Aber selbst bei denen, die nicht immer nett zu mir waren, kann man den Schmerz in ihren Leben spüren. Ich konnte irgendwann gehen, sie nicht. Sie waren an diesem Ort gefangen, der schrecklich war, für alle. Als wegen der sinkenden Ölpreise viele Arbeiter entlassen wurden, stieg die Selbstmordrate in Alberta. Weil diese Leute einfach nicht mehr wussten, wie sie außerhalb der Arbeitscamps überhaupt existieren konnten. Wenn du das hörst, weißt du, dass es hier ein größeres Problem gibt, als dass sich jemand dir gegenüber sexistisch verhält. Es gab auch viele Typen, die sagten: Ich mag nicht, wer ich hier bin. Dieser Ort bringt das Schlimmste in einem hervor. Ich will mich da auch nicht ausnehmen. Sicherlich gab es auch rassistische Vorfälle, die ich als weiße Frau nicht wahrgenommen habe. Jeder ist dort in seine eigene Einsamkeit eingewickelt.

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„Ducks“ landete in Nordamerika auf Bestenlisten und in den Lesetipps von Barack Obama. Hat der Erfolg des Buches die Debatte über die Ölsande in Kanada verändert?

Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Die große Reaktion auf „Ducks“ liegt auch darin begründet, dass man so selten Geschichten aus den Ölsanden zu hören bekommt. Es ist eine sehr isolierte Umgebung. Auf der einen Seite ist es der Motor des Landes. Gleichzeitig arbeitet man dort beinahe im Geheimen. Absichtlich. Wer dort fotografiert, wird gefeuert. Die Leute außerhalb wissen nichts über die menschlichen Beziehungen vor Ort. Oder darüber, was der Ort mit den Arbeitern macht. Ich hoffe also, dass es mehr Geschichten aus den Ölsanden geben wird. Und dass sich die Art und Weise ändert, wie wir in Kanada über Arbeit sprechen.

Nach all Ihren Erfahrungen: Würden Sie, wenn Sie noch einmal entscheiden könnten, wieder zwei Jahre in die Ölsande gehen?

Das ist schwer zu sagen, weil mein Leben ja das einzige Leben ist, das ich gelebt habe. Obwohl alles sehr schwierig war: Wenn ich nicht gegangen wäre, würde das bedeuten, nicht die Dinge über die Welt zu wissen, die ich heute weiß. Das ist ein Handel, den ich trotz der traumatischen Erfahrungen nicht bereit bin einzugehen: unwissend zu sein in Bezug auf den Kapitalismus, die Rechte Indigener, die Macht der Regierung und wie wir uns gegenseitig in Isolation behandeln – all diese Dinge, die ich in mir trage. Ich wäre nicht die Person, die ich heute bin.

Kate Beaton, geboren 1983, wuchs auf einer Insel in der ostkanadischen Provinz Nova Scotia auf. Ihren Durchbruch als Comiczeichnerin hatte sie mit dem Webcomic „Hark! A Vagrant.

„Ducks – Zwei Jahre in den Ölsanden“ ist als Gemeinschaftsproduktion der Verlage Zwerchfell und Reprodukt erschienen.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.