Auf dem Weg nach Köln-Ehrenfeld überlege ich, warum ich noch nie in der Kleiderei war. Da ich in Köln lebe, habe ich natürlich von ihr gehört. Außerdem gehöre ich vermutlich zur Zielgruppe: weiblich, um nachhaltigen Konsum bemüht, an Mode nicht uninteressiert. Bei dem Gedanken an konventionelles Shopping bekomme ich Schweißausbrüche, Kleidung kaufe ich in der Regel secondhand oder online. Warum also, frage ich mich, ist die Idee „Kleider leihen“ bisher keine Alternative für mich gewesen?
Das Konzept, sagt Lena Schröder, die Inhaberin, als wir kurze Zeit später unter einem Schild mit der Aufschrift „LIVE SLOW, DIE OLD“ vor der Kleiderei sitzen, müsse man den Leuten erst erklären. Am besten face to face. Wenn sie nur „Kleider leihen“ hören, würden viele nicht kommen. Ich fühle mich ertappt. Lena hat Modedesign studiert und sich schon während des Studiums mit Secondhand und Nachhaltigkeit beschäftigt. Bevor sie 2016 die erste Kleiderei in Köln eröffnete, hat sie sich mit einem Upcycling-Modelabel selbstständig gemacht, das aus ausrangierter Kleidung und Stoffresten eigene Mode herstellte. Seitdem sei viel passiert, sagt sie. Unter nachhaltiger Mode hätten sich damals die meisten selbst gebastelte Ohrringe aus Kronkorken vorgestellt.
Die Kleiderei ist in Deutschland das erste und bis jetzt einzige Fashion-Sharing-Konzept dieser Art. Lena will andere ermutigen, ihre eigene Kleiderei zu eröffnen. Und es scheint zu funktionieren: Seit Anfang 2019 gibt es einen zweiten Laden in Freiburg. Dieses Jahr war eine weitere Eröffnung in Berlin geplant, die wegen der Pandemie allerdings auf 2021 verschoben wird.
Ein Kleid nur für die Hochzeit am Wochenende? Kein Problem
Die Kleiderei ist keine Kleidertauschbörse. Es gibt Blumen, Neonschriftzüge und eine Backsteinwand, im Hintergrund läuft NTS, ein Online-Radiosender aus London. Auf den ersten Blick ist die Marken- und Qualitätsrange an den Kleiderstangen breit, sie reicht von gespendeter H&M-Mode bis hin zu qualitativ hochwertigen Marken. Darüber hinaus bietet die Kleiderei Neuware von fairen Modelabels an. „Damit man merkt, was Qualität für einen Unterschied machen kann“, sagt Lena. Für 29 Euro im Monat kann man sich bis zu vier Teile gleichzeitig leihen: Darunter fallen neben Kleidung auch Accessoires wie Schmuck, Taschen oder Hüte. Das Geliehene darf man grundsätzlich so lange behalten, wie man möchte, und nach eigenem Bedarf tauschen. Einen Mantel den ganzen Winter leihen? Ein Kleid nur für die Hochzeit am Wochenende? Kein Problem. Man kauft nichts neu und kann seinen Kleiderschrank um die Dinge erweitern, die man wirklich braucht. Im Optimalfall gibt man die Kleidung gewaschen zurück. Falls man das nicht schafft, wird sie von der Kleiderei gereinigt.
Die Kleiderei arbeitet mit der Deutschen Kleiderstiftung zusammen. Sie nimmt Kleiderspenden von Privatleuten an und sortiert aus, was sie nicht für den Verleih nutzt, um es an Upcycling-Labels weiterzugeben – oder an die Stiftung, die es für humanitäre Projekte verwendet.
Ich schließe ein dreimonatiges Probe-Abo ab. Ganz im Geiste der „Slow Fashion“ lasse ich mir bei der Auswahl meiner vier Stücke Zeit, probiere an und um. Schließlich entscheide ich mich für eine leichte Übergangsjacke, die brauche ich genauso wie eine kurze Sporthose. Außerdem wähle ich eine ärmellose Bluse, die mir für einen Kauf zu verträumt wäre. Als Letztes scannt die Kleiderei-Mitarbeiterin Hannah den QR-Code im Kragen eines gestreiften Leinenhemdes, das ich einfach schön finde. Kurz muss ich an eine Bibliotheksausleihe denken.
„Als ich die Kleiderei verlassen, bin ich wieder so fröhlich wie nach einem Shoppingtag mit 14“
Der Unterschied zur Bibliothek: Jedes Teil, das hier hängt, kann man kaufen und trägt zum Gewinn des Ladens bei. Das Konzept bedenkt auf diese Weise, dass wir alle in einer materialistischen Gesellschaft aufgewachsen sind, die Kleidung als Besitzgegenstand zählt. Und seien wir ehrlich: Das Hemd aus der Boutique in Paris, der Rock aus Tanger oder der Pullover der verstorbenen Oma – Kleidungsstücke sind nicht nur Nutzgegenstände, sondern auch Erinnerungsspeicher.
„Der Vorteil zum Secondhandshop ist, dass man Fehlkäufe vermeiden kann“, sagt Lena. Da man alles ausprobieren kann, bevor man es kauft, ist im Vorfeld absehbar, ob es zum Rest der eigenen Garderobe passt und ob man es wirklich braucht. Andererseits: Ein Teil, auf das man kurzfristig Lust hat und das man sich sonst vielleicht verbieten würde, kann man sich ohne Probleme „gönnen“. Ist ja nicht für immer.
Als ich den Laden verlasse, habe ich so gute Laune wie nach einem erfolgreichen Shoppingtag mit 14. Und eine Ahnung, warum ich bislang nicht hier war: Das Konzept geht einen Schritt weiter als Secondhand und hinterfragt Modekonsum auf eine Art, die auch für vorgeblich nachhaltige Mindsets wie meins neu und ungewohnt ist. Während der nächsten Wochen trage ich die Teile regelmäßig. Weil ich jetzt weiß, dass ich die Sachen theoretisch auch kaufen könnte, fühlt es sich bald nicht mehr nach etwas Geliehenem an – sondern eher wie eine ausgiebige Anprobe. Ich stelle fest: Die Sporthose kneift beim Joggen, das wirklich schöne Leinenhemd ziehe ich selten an, weil ich es nicht kombinieren kann. Und wer hätte es gedacht: Die ärmellose Bluse würde ich – Stand jetzt – gerne behalten.
Illustration: Renke Brandt