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Werden Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland bald legal?

Ja – so ist jedenfalls die Empfehlung einer von der Bundesregierung eingesetzte Kommission. Deren wissenschaftliche Koordinatorin erklärt die Hintergründe

Demo für das Recht auf Abtreibung, Berlin 2021

fluter.de: Frau Wörner, wie werden Schwangerschaftsabbrüche aktuell in Deutschland geregelt?

Liane Wörner: Ein Schwangerschaftsabbruch ist grundsätzlich illegal und strafbar, sowohl für die Schwangere als auch für die Ärzt:innen und Dritte. Unter bestimmten Bedingungen ist ein Schwangerschaftsabbruch aber straffrei. Nämlich wenn dieser in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft passiert, ein Arzt – das Gesetz spricht nur von Ärzten – die Schwangerschaft bestätigt hat, die Schwangere sich anschließend mindestens drei Tage vor dem Abbruch bei einer anerkannten Beratungsstelle hat beraten lassen und der Abbruch von einem Arzt vorgenommen wird. Wenn all dies eingehalten wird, bleibt der Schwangerschaftsabbruch zwar eine Straftat, wird aber nicht bestraft. Das ist ein Unikat im deutschen Recht.

Wie ist das in anderen Ländern?

Abgesehen von ein paar Ausnahmen – zum Beispiel die USA – ist weltweit gerade ein Liberalisierungsschub zu beobachten, etwa in Frankreich, Spanien oder Irland. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Weltgesundheitsorganisation deutlich gemacht hat, dass der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen entkriminalisiert werden muss, weil er die reproduktiven Rechte von Frauen – und nur von Frauen – einschränkt. An diese Entwicklung hängen wir uns in Deutschland gerade als Schlusslicht an.

„Was sich geändert hat, ist der Zeitpunkt, ab dem eine Frau als schwanger gilt“

Inwiefern hat sich die Wahrnehmung von Schwangerschaftsabbrüchen verändert?

Wo Menschen schwanger werden, werden Schwangerschaften abgebrochen. Dabei wird der Schwangerschaftsabbruch seit jeher nur als Straftat wahrgenommen. Was sich jedoch geändert hat, ist der Zeitpunkt, ab dem eine Frau als schwanger gilt. Lange war das ab dem Zeitpunkt, ab dem sich das Kind merklich im Bauch bewegt – das passiert um die 19. bis 20. Schwangerschaftswoche, also sehr spät in der Schwangerschaft. Außerdem gab es sogenannte christliche Beseelungslehren. Die bekannteste ist von Thomas von Aquin und besagt, dass der männliche Fötus am 40. Tag nach der Befruchtung und der weibliche Fötus erst am 80. Tag beseelt wird. Weil man das Geschlecht früher nicht kannte, ließ man die Schwangerschaft erst später beginnen. Die Paragrafen 218 bis 220 wurden 1871 mit der Gründung des deutschen Kaiserreichs in das Strafgesetzbuch eingeführt. Die Medizin hatte bis dahin entdeckt, dass das Leben schon lange vor der „Beseelung“ beginnt. Damit war plötzlich der Schwangerschaftsabbruch von der Befruchtung an bis zur Geburt strafbar.

Wie hat sich das Gesetz weiterentwickelt?

In der Weimarer Republik entschied das Reichsgericht 1927, dass Abbrüche immerhin bei Gefahr für die Frau zulässig und rechtmäßig sind. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das Gesetz dann verschärft. Einerseits wurden Zwangsabtreibungen durchgeführt, wenn etwa die Herkunft des Erzeugers nicht in das nationalsozialistische Weltbild passte. Andererseits drohte schließlich mit Einführung der Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft 1943 Ärzt:innen bei Schwangerschaftsabbrüchen sogar die Todesstrafe, wenn dadurch die „Lebenskraft des deutschen Volkes“ beeinträchtigt wurde. Auch das führte nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik mit dazu, dass in Artikel 1 des Grundgesetzes die Menschenwürde ausdrücklich verankert wurde. Damit verbunden war der Schutz des Lebens, und zwar auch des ungeborenen Lebens. Der Paragraf 218 blieb nach der NS-Zeit weiter bestehen.

Das haben viele Frauen aber nicht akzeptiert.

Genau, in den 1970er-Jahren kam es zur Frauenbewegung mit Slogans wie „Mein Bauch gehört mir“. Schließlich einigte man sich in Westdeutschland auf eine Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten zwölf Wochen. Das Bundesverfassungsgericht verhinderte 1975 aber das Inkrafttreten des Gesetzes. Das ungeborene Leben werde dadurch nicht umfassend geschützt, wobei der Staat durch das Grundgesetz eben genau zu diesem Schutz verpflichtet sei, befand das Gericht. In der DDR wurde dagegen 1972 so eine Fristenlösung eingeführt.

Ost und West hatten hier also sehr unterschiedliche Regelungen. Wie ging es nach der Wiedervereinigung weiter?

Im Einigungsvertrag konnte man sich auf keine Lösung verständigen. 1992 wurde erneut eine Fristenregelung vorgeschlagen, in diesem Fall mit Beratungspflicht. Aber 1993 urteilte das Bundesverfassungsgericht wie schon 1975: Auch mit einer Beratung dürfe ein Schwangerschaftsabbruch nicht legal sein. Deshalb haben wir bis heute diese Krux, dass der Abbruch rechtswidrig und grundsätzlich eine Straftat ist, aber bei Einhalten der Voraussetzungen – Beratungspflicht, Wartezeit, Arzterfordernis – straflos bleibt.

Warum wurde die Kommission vor einem Jahr eingesetzt?

Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der wir viele Gender akzeptieren und in der wir anders über die Bedeutung von Gleichberechtigung diskutieren. Und das verändert auch das Denken über die Selbstbestimmungsrechte der Geschlechter. Kürzlich wurde das Selbstbestimmungsgesetz verabschiedet, das es trans-, intergeschlechtlichen und nichtbinären Menschen erleichtert, ihren Geschlechtseintrag und Vornamen zu ändern. Außerdem gab es die Debatte um den Paragrafen 219a und das sogenannte Werbeverbot, das es Ärzt:innen untersagte, öffentlich, zum Beispiel auf ihrer Website, über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren. Die Abschaffung dieses Verbots schaffte es in den Koalitionsvertrag und ist 2022 auch erfolgt. Im Zuge dessen wurde auch die Einsetzung unserer Kommission verabredet.

Wie wurde die Kommission eingesetzt?

Wir Mitglieder wurden von der Regierung ausgewählt, waren aber als Kommission völlig unabhängig. Aussagen wie die Kommission habe „geliefert wie bestellt“ stimmen einfach nicht. Wissenschaftler:innen prüfen per se unabhängig.

„Es geht darum, zu verstehen, dass Frauen in ihrer Gesamtheit essenziell dafür sind, dass vorgeburtliches Leben überhaupt existieren kann“

Ihre Aufgabe in der Kommission war es, zu prüfen, ob man den Schwangerschaftsabbruch auch außerhalb des Strafgesetzbuches regeln kann. Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Zu Beginn glaubte niemand von uns, dass wir mit einstimmigen Empfehlungen herauskommen würden. Aber wir haben gemeinsam unter Einbeziehung sämtlicher Expertisen der Kommissionsmitglieder völlig ergebnisoffen alles ausdiskutiert. Außerdem haben wir mit allen Bundestagsfraktionen gesprochen. Wir haben auch über 60 Verbände – darunter Beratungsverbände, ärztliche sowie kirchliche Verbände und Lebensschutzorganisationen – eingeladen, ihre Stellungnahmen ausgewertet und einen ganzen Tag mit ihnen diskutiert. Die Erkenntnisse aus den verschiedenen Bereichen haben wir mit in den Beratungsprozess genommen.

Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Kurz gesagt: Der Paragraf 218 a Absatz 1, der regelt, unter welchen Bedingungen eine Schwangerschaft straffrei ist, aber zugleich rechtswidrig bleibt, ist nicht mehr haltbar. Eine Regelung für den Schwangerschaftsabbruch zu finden bedeutet, zwischen den Rechten der Frau und den Rechten des Ungeborenen abzuwägen. Diese Abwägung muss im Laufe der Schwangerschaft unterschiedlich ausfallen.

Welche Abstufungen empfehlen Sie?

Wir empfehlen, in der Frühphase der Schwangerschaft, also in den ersten zwölf Wochen, Abbrüche grundsätzlich als rechtmäßig zu erlauben. Hier wiegt das Recht der Frau mehr als das des Ungeborenen. Die Übernahme einer ungewollten Schwangerschaft ist unzumutbar. In der Spätphase der Schwangerschaft – also ab dem Zeitpunkt, wenn das ungeborene Leben selbstständig lebensfähig ist – ist es genau andersrum. Hier sollte ein Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich rechtswidrig sein, mit ein paar Ausnahmen. In der mittleren Phase, also zwischen der 12. und 22. Woche, muss der Gesetzgeber entscheiden, unter welchen Bedingungen ein Schwangerschaftsabbruch rechtmäßig ist. Hier besteht Handlungsspielraum. Im Falle einer Vergewaltigung sehen wir eine Frist von zwölf Wochen, wie sie derzeit gesetzlich festgeschrieben ist, als zu eng bemessen an.

Kritiker:innen sehen den Schutz des ungeborenen Lebens, den das Bundesverfassungsgericht fordert, in Ihren Empfehlungen nicht ausreichend gewährleistet.

Es geht nicht darum, gerade auch im Bericht der Kommission nicht, vorgeburtliches Leben als Schutzgut zu relativieren. Sondern darum, zu verstehen, dass Frauen in ihrer Gesamtheit essenziell dafür sind, dass vorgeburtliches Leben überhaupt existieren kann und dass sie als Menschen allen Schutz dieser Gesellschaft verdienen. Im Sinne der Gleichberechtigung ist es entscheidend, dass alle die Möglichkeit haben, sich gleichermaßen frei fortzupflanzen. Wenn ich einem Geschlecht, nämlich Frauen, die gesellschaftliche Aufgabe gebe, umfassend für die Fortpflanzung zu sorgen, dann setze ich sie als Personen zurück. Dafür muss ich als Staat einen Ausgleich schaffen. Es muss dafür gesorgt werden, dass, wenn diese Person in einen Konflikt gerät, sie nicht alleine gelassen wird. Und das kann ich nur mit legalen Verfahren.

Wieso sollte eine Neuregelung nicht abermals am Bundesverfassungsgericht scheitern?

Freilich kann man einer solchen Entscheidung nicht zuvorkommen. Man kann aber sagen, dass sich die sachlichen Voraussetzungen heute entscheidend verändert haben. Der Blick ist nicht mehr allein entscheidend auf den Schutz des ungeborenen Lebens gerichtet, sondern auch auf den Gesundheitsschutz der Frauen. Das Gericht hat auch 1993 bereits eine ausreichende Versorgung der Frauen im Konflikt als Grundlage für die aktuelle Beratungsregelung gefordert. Diese Versorgung steht jetzt infrage. Deutschland wurde vom UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau wegen der problematischen Versorgung angemahnt. Eine gleichlautende erneute Entscheidung ist aus diesen Gründen eher unwahrscheinlich. Jede andere neue Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann der Fortentwicklung des Grundrechtsschutzes in Deutschland nur dienen und die Demokratie stärken. Davor sollten wir nicht zurückschrecken.

Was fordern Sie außerdem?

Wir müssen gesellschaftliche Rahmenbedingungen für gewollte Kinder schaffen: Wir brauchen eine kinderfreundliche Gesellschaft. Verhütung muss kostenfrei sein, das Beratungsangebot muss ausgebaut werden und allen niedrigschwellig zugänglich sein, im Notfall auch mit einer Beratungspflicht, das lassen wir offen. Ein Schwangerschaftsabbruch sollte eine Gesundheitsleistung sein und nicht selbst bezahlt werden müssen.

Wenn nun ein Gesetz nach Ihren Empfehlungen entstehen würde, was würde sich für die Betroffenen ändern?

Niemand spricht gerne über etwas, was er oder sie illegal tut. Mit einer Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs könnte man zur Entstigmatisierung entscheidend beitragen, die Unzumutbarkeit der Fortsetzung einer Schwangerschaft könnte offen angesprochen werden. Mehr Ärzt:innen wären so wieder bereit, Abbrüche durchzuführen, ohne eine Strafe fürchten zu müssen. Damit könnte auch die derzeit schlechte Versorgungslage verbessert werden. Mit unserem jetzigen Verfahren in Deutschland helfen wir den Frauen nicht und belasten das Gesundheitssystem mit großem Verwaltungsaufwand.

Ihre Empfehlungen sind veröffentlicht. Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Am besten wäre es natürlich, wenn sich die drei Regierungsparteien schnell einigen und den Schwangerschaftsabbruch legalisieren würden. Aber das halte ich angesichts der Bundestagswahl im nächsten Jahr leider für unrealistisch. Ich hoffe aber, dass der Bundestag das Thema offen diskutieren wird. Eine Schwangerschaft anzunehmen ist eine große Verantwortung, und wir sollten uns um eine Gesellschaft bemühen, in der wir alle gemeinsam diese Verantwortung mittragen.

Prof. Liane Wörner ist Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsvergleichung, Medizinstrafrecht und Rechtstheorie an der Universität Konstanz.

Portrait: privat 

Titelbild: Lutz Jaekel/laif

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