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„Das ist eine menschengemachte Katastrophe“

Der Intensivmediziner Amar Mardini hat im Gazastreifen Schwerverwundete versorgt. Er berichtet von übermüdeten Helfenden und überfüllten Notaufnahmen. Und sagt: Noch nie habe er so schwere Verbrennungen gesehen

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 Al-Aqsa-Krankenhaus

Inhaltswarnung: In diesem Text werden schwere Verletzungen gezeigt und beschrieben.

Amar Mardini war sechs Wochen für die Weltgesundheitsorganisation im Gazastreifen. Von Anfang Juli bis zum 22. August unterstützte er palästinensische Kolleg:innen bei der Notfallversorgung. Wir erreichten ihn in dieser Zeit während seiner Schicht am Telefon.

fluter.de: Herr Mardini, wie kann man sich Ihre Arbeit vorstellen?

Amar Mardini: Wir arbeiten mit zwei Teams mit je drei Leuten in zwei Krankenhäusern in Zentral-Gaza. Ich wurde bisher hauptsächlich im Al-Aqsa-Krankenhaus eingesetzt. Ich helfe bei der Versorgung von Schwerverwundeten, vor allem, wenn nach israelischen Luftangriffen bis zu 40 Personen auf einmal Hilfe brauchen. Das kann mehrmals am Tag passieren. Außerdem verletzen sich Menschen ja auch noch bei alltäglichen Dingen: Weil es kaum Strom gibt, hantieren viele zum Beispiel mit Gasflaschen. Und die explodieren schon mal.

Wie kommen die Verletzten zu Ihnen?

Oft fahren Angehörige verletzte Familienmitglieder mit dem Auto vor die Notaufnahme. Auch stellt der Palästinensische Rote Halbmond einige Rettungswagen zur Verfügung. Die werden allerdings bei Angriffen immer wieder getroffen. Die Rettungssanitäter:innen, die die Verletzten transportieren, riskieren bei jeder Fahrt ihr Leben.

Können Sie sich ausreichend um die vielen Verwundeten kümmern?

Das Al-Aqsa ist eines der letzten noch funktionierenden Krankenhäuser in Gaza, und selbst hier ist eine adäquate Versorgung nicht mehr möglich. Das Gesundheitssystem ist größtenteils zusammengebrochen und massiv überlastet. Wir sind unterbesetzt, auch wenn einige Ärzt:innen aus anderen zerstörten Krankenhäusern zu uns gewechselt sind. Viele Kolleg:innen mussten fliehen oder müssen sich um ihre Familien kümmern. Die hygienischen Bedingungen sind zudem katastrophal. Chirurg:innen müssen oft ohne sterile Kittel operieren. Es fehlt einfach an allem.

Al-Aqsa-Krankenhaus

 Al Aqsa Krankenhaus
Ein Mann bringt ein Kind in das Al-Aqsa-Krankenhaus in Gaza, nachdem es bei einem Luftangriff der israelischen Armee auf den Stadtteil Deir al-Balah verletzt worden war

Woran konkret? 

Es fehlen etwa Medikamente für chronisch kranke Patient:innen. Immer wieder werden Menschen ins Krankenhaus gebracht, die Diabetes haben und ins Koma gefallen sind. Sie haben entweder kein Insulin mehr oder keine Möglichkeit, es richtig zu lagern. Auch für Krebskranke sieht es in Gaza düster aus. Sie haben kaum eine Chance, eine Chemotherapie zu bekommen oder ihre Behandlung weiterzuführen, weil nicht genügend Medikamente da sind. Es gibt nicht einmal ausreichend Schmerzmittel. Immerhin konnten wir kürzlich dabei helfen, 85 schwerkranke Patient:innen und ihre Angehörigen in die Vereinigten Arabischen Emirate zu evakuieren.

Welche Folgen haben der Mangel an medizinischer Ausstattung und die schlechten hygienischen Zustände?

Verheerende. Verwundete Menschen kommen zwar in ein Krankenhaus, aber ihnen kann dort oft nicht mehr geholfen werden. Es gibt bei uns im Krankenhaus eine strikte Regel: Patient:innen, bei denen der Verbrennungsgrad über 50 Prozent der Körperoberfläche beträgt, dürfen nicht mehr auf die Intensivstation aufgenommen werden – weil klar ist, dass sie selbst dort im Verlauf an einer Infektion sterben würden. Sie würden, und es ist schlimm, das zu sagen, Kapazitäten binden. Es gibt auch Patient:innen, die wegen der mangelnden Versorgung und schlechten hygienischen Bedingungen ihre Arme oder Beine verlieren. Viele Erkrankungen, die ich hier sehe, könnte man in Deutschland gut behandeln. Aber in Gaza sterben die Menschen daran. Das ist eine menschengemachte Katastrophe.

Wie schaffen Sie und Ihre Kolleg:innen es, die vielen Kranken trotzdem zu versorgen?

Es ist eine Herausforderung. Wir haben drei Liegen im Schockraum. Meistens halten sich dort aber acht Patient:innen auf, sie liegen auf Teppichen auf dem Boden. Wir müssen dann versuchen, so zu arbeiten. Oft müssen die Angehörigen mit anpacken. Wir haben nur wenige Beatmungsgeräte in der Klinik, die reichen nicht immer. Einmal war ich dabei, als eine Mutter ihren dreijährigen Jungen mit einem Beatmungsbeutel beatmen musste. Zwei Stunden lang versuchte sie, Sauerstoff in die Lungen ihres Kindes zu pumpen, aber es ist dann in ihren Armen gestorben.

Al-Aqsa-Krankenhaus
Ein Patient liegt auf dem Boden im Al-Aqsa-Krankenhaus. Durch den Krieg können die Verletzten bestenfalls notdürftig versorgt werden

Sie waren vorher schon als Arzt in Kriegsgebieten, etwa in der Ukraine. Was ist in Gaza besonders?

Hier sind fast die Hälfte der Bevölkerung Kinder. Von unseren Patient:innen sind etwa 30 bis 40 Prozent Kinder. Bei ihnen kann schon eine Verletzung durch einen kleinen Granatsplitter schwere Schäden anrichten. Die Brustwand ist nicht so stabil wie bei Erwachsenen.

Aus medizinischer Sicht: Welche Verletzungen sind am schlimmsten?

Die Verbrennungen. Ich habe noch nie derart schwere Verbrennungen gesehen. Vor ein paar Tagen wurde ein Kind eingeliefert, dessen gesamte Körperoberfläche verbrannt war. Wir waren drei Stunden damit beschäftigt, die Haut von diesem Kind abzuziehen, um es dann mit Cremes und Verbandsmaterial zu versorgen. Wir wussten während dieser drei Stunden, dass das Kind sehr wahrscheinlich nicht überleben wird. Bei den schlechten Bedingungen, die hier herrschen, lag die Überlebenswahrscheinlichkeit bei unter einem Prozent. Wir haben es trotzdem versucht. Aber das Kind ist gestorben.

Wie verarbeiten Sie das Leid, das Sie jeden Tag sehen?

Wir besprechen jeden Abend mit der Gruppe, was wir am Tag gemacht und erlebt haben. Oft sitzen wir im Anschluss noch zusammen und reden, manchmal spielen wir dabei Karten. Der Austausch mit dem Team hilft. Und der Austausch mit unseren palästinensischen Kolleg:innen. Uns wird eine unglaubliche Dankbarkeit entgegengebracht, manchmal auch nur dafür, dass wir ihnen zuhören, wenn sie von ihren Sorgen berichten. Trotz all dem Leid gibt es auch schöne Momente. Ich versuche, mich darauf zu konzentrieren.

Al-Aqsa-Krankenhaus

Al Aqsa Krankenhaus
Verletzte Kinder im Al-Aqsa-Krankenhaus: Laut Mardini machen sie 30 bis 40 Prozent der Verwundeten aus

Wie geht es den palästinensischen Ärzt:innen in dieser Lage? 

 

Sie arbeiten zum Teil 24 Stunden, machen im Krankenhaus ein kurzes Nickerchen, gucken dann bei ihren Familien in den Zelten vorbei, ob alles in Ordnung ist und fangen wieder die nächste Schicht an. Sie sind völlig erschöpft. Ich bin erst seit ein paar Wochen hier und finde es bereits anstrengend. Ich weiß nicht, wie die Kolleg:innen das seit zehn Monaten durchstehen. Die palästinensischen Ärzt:innen und Pfleger:innen arbeiten die ganze Nacht durch und begrüßen mich am Morgen mit einem Tee und einem Lächeln. Sie sind für mich Held:innen. Aber lange werden sie dieses Pensum nicht mehr durchhalten.

Wie bereiten Sie sich auf derart schwierige Einsätze vor?

Vor jedem Einsatz absolvieren die Teammitglieder ein mehrtägiges Krisentraining. Dort werden Notfallszenarien simuliert, bei denen eine große Anzahl von Verletzten versorgt werden muss. Wir lernen dabei, wie wir mit solchen Situationen umgehen und als Team zusammenarbeiten. Außerdem werden wir in Sicherheitsmaßnahmen geschult und lernen, wie wir uns in einem Kriegsgebiet verhalten. Mir hat das Training vor dem Einsatz in Gaza klargemacht, dass es hier auf jeden Einzelnen ankommt. Selbst kleine Fehler können fatale Folgen für das gesamte Team haben.

Auch Krankenhäuser wie das Al-Aqsa-Krankenhaus geraten immer wieder unter Beschuss. Haben Sie Sorge, dass Sie selbst getroffen werden könnten?

Wir befinden uns in einem Gebiet, das Israel als sogenannte humanitäre Zone deklariert hat. Wenn wir uns morgens von unserer Unterkunft zum Krankenhaus aufmachen, geben wir der israelischen Seite Bescheid. Das Gleiche machen wir, wenn wir am Abend wieder zurückfahren. Das ist aber keine Garantie dafür, dass nichts passiert. Sollte sich die Sicherheitslage verschlechtern, müsste das Krankenhaus seinen Betrieb einstellen. Mit dieser Sorge leben wir als Ärzt:innen jeden Tag.

  

Amar Mardini, 34 Jahre alt, ist ein deutscher Arzt. Mardini gehört zum Team der Berliner Hilfsorganisation Cadus, die seit Februar unter dem Schirm der Weltgesundheitsorganisation in Gaza im Einsatz ist. Die Helfer:innen unterstützen die palästinensischen Ärzt:innen und Krankenpfleger:innen bei der Versorgung von Notfällen.

Fotos: Samar Abu Elouf/NYT/Redux/laif

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