fluter: Ist es nicht ein Widerspruch, einerseits Tiere millionenfach zu schlachten oder zu schreddern und auf der anderen Seite Haustiere zu hätscheln?
Marcel Sebastian: Der Tierethiker Gary Francione spricht diesbezüglich von „moral schizophrenia“. Ich würde es Ambivalenz nennen, weil wir selbst den Nutztieren einen gewissen Minimalschutz bieten. Das Tierschutzgesetz erlaubt zwar eine ganz große Bandbreite von Körperverletzungen und sogar die Tötung des Tieres, aber es gibt auch Grenzen vor, die beseelt sind von einer Art Mitleid. Auf der anderen Seite ist die Beziehung zu Haustieren nicht nur vom Streicheln geprägt, sondern auch von Unterordnung.
Ist das Haustier also auch nur ein Nutztier, das dem Menschen einen Dienst erweist?
Schon, obwohl die Vorstellung vom Tier als Familienmitglied populärer wird. Aber auch in einer Familie gibt es ja Ungleichheit, Egoismus und Instrumentalisierung. Allerdings war der soziale Status von Haustieren nie so hoch wie heute.
Zweck des Tierschutzgesetzes ist es, „aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen“. Wird dieses Gesetz nicht täglich gebrochen?
Hier spitzt sich die Ambivalenz zu. Wenn man die Regelungen für das Halten von Hunden und Schweinen vergleicht, könnten die unterschiedlicher nicht sein. Beim Hund überwiegt die Sicherstellung einer hohen Lebensqualität, das kann man beim Schwein wirklich nicht behaupten. Aber diese vermeintliche Schizophrenie ist keine kollektive Charakterschwäche, sondern das Resultat von Aushandlungsprozessen, die permanent stattfinden. Auf der einen Seite will man dem Tier nicht so schwer schaden, dass es unsere Identität als zivilisierte, moderne Menschen infrage stellt, auf der anderen Seite stehen die Vorteile der gegenwärtigen Fleischproduktion. Kurz gesagt geht es darum, die Preise niedrig zu halten.
Es gibt zunehmend mehr Menschen, die kein Fleisch essen, und dennoch produzierte Deutschland auch auf Kosten der Umwelt im ersten Halbjahr 2019 3,9 Millionen Tonnen Fleisch.
Es gibt eine mächtige Agrarlobby und große Exportmärkte, zum Beispiel China oder Indien, wo man mit zunehmendem Wohlstand einen westlichen Lebensstil pflegt. Bei uns hingegen werden die Probleme der Massentierhaltung von vielen wahrgenommen. Die Gesellschaft stellt zunehmend die Gerechtigkeitsfrage, und es gibt ein großes Unbehagen über die diversen Arten von Mensch-Tier-Beziehungen. Eine Unterscheidung von Nutz- und Haustieren funktioniert nicht mehr, um die Ungleichbehandlung von Tieren zu legitimieren. Dass es sich um einen grundlegenden Wandel und nicht nur um einen kurzfristigen Veggie-Trend handelt, merkt man auch daran, wie massiv die Fleischindustrie versucht, den Markt für vegetarische Produkte für sich zu erobern. In den Firmen sitzen ja nicht plötzlich Tierfreunde, die moralisch oder ethisch getrieben sind, sondern Manager, die Zukunftsmärkte in den Blick nehmen.
„Plötzlich machen sogar konservative Politiker Vorschläge zum Umweltschutz, weil der einen Großteil der Bevölkerung bewegt. Ähnliches kann auch beim Tierschutz passieren.“
Was sind die wesentlichen Faktoren des Umdenkens?
Entscheidend ist der Diskurs über tierethische Fragen, der an Überzeugungskraft gewinnt. Dabei spielen die neuen Medien, die Informationen schnell verbreiten und das Leid der Tiere sichtbar machen, eine große Rolle. Außerdem wird die Tierschutz- und Tierrechtsbewegung immer größer und professioneller.
Welche Rolle spielt der Klimawandel?
Das ist ein Thema, das das Umdenken massiv beeinflusst. Plötzlich machen ja sogar konservative Politiker weitreichende Vorschläge zum Umweltschutz, weil der einen großen Teil der Bevölkerung bewegt. Ähnliches kann aber auch beim Tierschutz passieren. Wenn Sie auf der Straße fragen, ob Tierschutz ein wichtiges Thema ist, dann stimmen 90 Prozent zu. Auch sind die meisten dafür, dass mehr fürs Tierwohl getan werden müsste. Es mangelt bisher aber noch an der praktischen Umsetzung.
Könnte eine Massenbewegung wie Fridays for Future für den Tierschutz etwas ändern?
Das hängt davon ab, wie sich Fridays for Future oder auch die Bewegung für Klimagerechtigkeit im Ganzen entwickelt. Bisher spielen die Themen Energieproduktion und Mobilität/Verkehr die dominante Rolle. Ohne Agrarwende ist der Klimawandel aber kaum abzuschwächen, weil die Klimabilanz der landwirtschaftlichen Tierhaltung so katastrophal ist. Die Klimabewegung müsste also auch das Ende der massenhaften Tierhaltung in der Landwirtschaft als Forderung aufgreifen. Das Motiv wäre dann zwar nicht in erster Linie Tierschutz, aber der Effekt für Tiere und Klima wäre riesig.
In der Vorbereitung zu diesem Heft habe ich gemerkt, dass sich mein Verhalten gegenüber Tieren verändert. Ich klatsche nicht mehr selbstverständlich jede Fliege tot, die mich nervt, und esse bewusst weniger Fleisch.
Menschen haben diverse Gründe, warum kulturelle Ideen verändert werden, dazu gehören Emotionalität oder ein vernünftiger Diskurs. Bei Ihnen war der Auslöser vielleicht etwas Rationales, ein überzeugendes Argument, bei anderen sind es die abschreckenden Bilder aus der Massentierhaltung. Wichtig ist: Beim Mensch-Tier-Verhältnis geht es um uns alle, weil jeder diese Beziehung hat – ob das Tier nun tot oder lebendig ist, ob es ein Haustier ist, ein Steak oder die Mücke, die mich sticht. Deshalb kann sich auch jeder in diese Debatte einklinken.
Aber ist die Beziehung zu lebenden Tieren nicht eher weniger intensiv geworden? Früher haben mehr Menschen mit Tieren zusammengelebt. Heute kennen viele ein Schwein nur noch in Wurstform. Das Tier, auch sein Sterben, wird verbannt.
Ich würde eher sagen: Es gibt einen Wandel der Anwesenheit von Tieren. Also davon, welche Tiere in welcher Form anwesend sind. Im Zuge der Industrialisierung ist die praktische Erfahrung, mit lebenden Tieren zusammenzuleben, die keine Haustiere sind, enorm reduziert worden. Die Entfremdung von landwirtschaftlichen Produktionsprozessen ist ein zentrales Element moderner Gesellschaften.
Entstand mit der Industrialisierung auch die Idee, Tiere millionenfach zu züchten und zu töten?
Es wurden die technischen Möglichkeiten dafür geschaffen. Parallel entstand im Zuge der Urbanisierung eine von der Landwirtschaft entkoppelte wohlhabende Gesellschaftsschicht, die mehr konsumierte. Man kann das auch ganz konkret an Zeiten und Orten festmachen: Mitte des 19. Jahrhunderts werden zum Beispiel die Schlachthöfe von Chicago gebaut. Die Tiere werden aus dem Mittleren Westen über neu entstandene Eisenbahnverbindungen dorthin transportiert und dann in bisher ungeahnten Ausmaßen und systematisch getötet. Dazu kommen technische Innovationen wie Kühlwagen oder die Konservierung. So wird das Fleisch in wenigen Jahrzehnten vom klassischen Sonntagsessen zum alltäglichen Konsumgut.
Dass einerseits Haustiere verhätschelt werden und andererseits Küken geschreddert und Ferkel ohne Narkose kastriert, wird von immer mehr Menschen hinterfragt
War es nicht noch vor wenigen Jahrzehnten gang und gäbe, dass man nur sonntags – oder zumindest nicht jeden Tag – Fleisch aß?
Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg eine weitere Zäsur – als Klassenunterschiede durch den Wohlfahrtsstaat langsam reduziert wurden. Mit dem Wirtschaftswachstum setzte sich auch die Massentierhaltung durch. Es gab in den 1950er-Jahren sowohl bei der Viehhaltung als auch bei der Fleischproduktion eine enorme Senkung der Kosten, dadurch stiegen die Gewinne und die Verfügbarkeit der Produkte – schließlich bis zu dem Maße, wie wir es heute kennen.
Welche Rolle spielt im Mensch-Tier-Verhältnis eigentlich die Religion? In der Bibel steht zum Beispiel, dass Furcht und Schrecken vor dem Menschen über alle Tiere kommen sollen. Ist schon im Christentum angelegt, dass das Tier nie ein Mitgeschöpf, sondern immer Untertan war?
Der Einfluss der jüdisch-christlichen Religion auf unser Verhältnis zu Tieren ist groß. In monotheistischen Religionen ist die Unterordnung von Natur und Tieren angelegt. Aber auch hier stoßen wir auf Widersprüche: Einerseits gibt es den Herrschaftsauftrag, aber auch Fürsorge, Barmherzigkeit und Mitleid gegenüber der gesamten Schöpfung. Es gibt das Ziel, ein prinzipientreuer, aufrechter Mensch zu sein, gleichzeitig findet man immer Wege, das zu umgehen.
Gehört zu den Methoden dieses Umgehens auch die Wissenschaft beziehungsweise der unbedingte Wille, den Menschen wissenschaftlich vom Tier abzugrenzen und damit die Ungleichheit zu rechtfertigen?
Das war lange Zeit so, aber momentan spielt die Wissenschaft eher in die Hände derer, die die strikte Trennung zwischen Mensch und Tier auflösen wollen. Die Disziplinen, die sich mit Tieren beschäftigen, bringen dem Menschen derzeit immer neue narzisstische Kränkungen bei, weil sie herausfinden, dass auch manche Tiere hochgradig intelligent sind oder hochkomplexe soziale Beziehungen haben – was ja beides lange dem Menschen vorbehalten schien.
Bleibt als Unterscheidungsmerkmal nur noch die Vernunft?
Marcel Sebastian arbeitet an der Universität Hamburg im Fachbereich Soziologie im Bereich der Human-Animal Studies, für die sich Wissenschaftler aus den Bereichen Kunstwissenschaft, Biologie, Veterinärmedizin, Politikwissenschaft, Philosophie oder Geschichte austauschen.
Mit diesem Argument wurde der Mensch in der Aufklärung zum Mittelpunkt des Geschehens – und die Vernunft zu einer Alternative zur kirchlichen Doktrin, um lebensweltliche Fragen zu beantworten. Damit lag es nah, sich von Tieren abzugrenzen.
Welchen Umgang haben andere Kulturen als unsere westliche mit Tieren entwickelt?
In fast allen Kulturen der Erde werden Tiere genutzt und gegessen. Allerdings gibt es starke Unterschiede bei der Frage, welche Tiere aus welchen Gründen genutzt werden dürfen. Während bei uns ein kulturelles Verzehrtabu für Hundefleisch gilt, ist im Islam das Essen von Schweinen verpönt. Im Hinduismus gilt die Kuh als heilig. Mit der Globalisierung verschwimmen Kulturen aber zunehmend und beeinflussen sich gegenseitig. Yoga und Meditation liegen in Europa voll im Trend. Gleichzeitig setzt sich die ambivalente Beziehung westlicher Kulturen zu Tieren global durch. Das heißt, dass beispielsweise in China der Fleischkonsum massiv steigt, sich gleichzeitig aber auch Tierrechtsorganisationen zunehmend engagieren.
Sollten Tiere mehr Rechte bekommen?
Wenn Tiere den Status eines Rechtssubjekts bekommen, würde das vieles verändern. Manche wollen ja sogar eine Art Staatsbürgerschaft für Tiere; die wäre mit der gewaltsamen Nutzung von Tieren nicht zu vereinen. Aber jenseits von Rechtsfragen: Als Soziologe bin ich fasziniert davon, dass sich in so kurzer Zeit die althergebrachte Sicht auf Natur und Umwelt verändert. Uns als Gesellschaft in Deutschland erscheint die Situation zunehmend als Widerspruch, irgendwie nicht stimmig. Und das ist nicht mehr die Position einer gesellschaftlichen Minderheit, die sich im Tierschutz engagiert, sondern mittlerweile Common Sense. Das wird dazu führen, dass Tierrechte ausgeweitet werden und das Wohlwollen gegenüber Nutztieren steigt. Die Kategorien von Nutz- und Haustier lösen sich gerade auf – und zwar in Echtzeit.
Fotos: Daniel Gebhart de Koekkoek