An meinem ersten Morgen in Seoul blinkt eine Eilmeldung auf dem Smartphone auf: Wasserstoffbombentest in Nordkorea! Neue Eskalationsstufe im Atomkonflikt! Hatte ich in den Wochen vor meinem Abflug alle besorgten Nachfragen abgewehrt und erklärt, nicht an eine militärische Eskalation zu glauben, stellt der Bombentest gleich am Tag meiner Ankunft meine wochenlang propagierte Überzeugung auf die Probe.
Vor Antritt meines dreimonatigen Praktikums bei der Friedrich-Ebert-Stiftung hatte ich mich natürlich über die Konfliktkonstellation informiert: Auf der einen Seite steht Nordkorea mit seinem jungen Diktator Kim Jong-un, der die Entwicklung von atomwaffenfähigen Interkontinentalraketen vorantreibt und glaubt, seine Macht allein damit sichern und das Land vor einem Angriff schützen zu können. Auf der anderen Seite stehen die USA als Schutzmacht Südkoreas, Verbündete Japans und Erzfeind Nordkoreas. Hatte sich Ex-Präsident Barack Obama in „strategischer Geduld“ geübt – wie sein Nachfolger Donald Trump es missbilligend ausdrückte –, setzt Letzterer nun auf die Diplomatie des „maximalen Drucks“: Im September beschimpfte Trump auf Twitter Nordkorea als Schurkenstaat, der „nur eines“ verstehe. In seiner ersten Rede vor der UN-Vollversammlung ließ er dann keinen Interpretationsfreiraum mehr – und drohte mit der „totalen militärischen Vernichtung Nordkoreas“.
Regelmäßig gibt es stadtweite Notfallübungen, bei denen der Verkehr zum Erliegen kommt und die Bevölkerung die Bunker aufsuchen soll
In Seoul angekommen, fühlt sich die Bedrohung aus Nordkorea ganz real an. Um die Metropolregion mit ihren rund 25 Millionen Einwohnern in Schutt und Asche zu legen, braucht es nämlich gar keine Atombombe – konventionelle Artilleriegeschütze würden reichen. Und die sind schon jetzt in nur 50 Kilometer Entfernung an der Grenze zu Nordkorea stationiert. In einigen Schulen bereiten Lehrkräfte ihre Schulklassen auf Notfallsituationen vor, zum Erntedankfest werden erstmals auch Survival Kits verschenkt, und vor Feiertagen gehen einzelne Videos viral, in denen Vlogger vor laufender Kamera ihre Notfallrucksäcke packen. Als ich an meinem ersten Arbeitstag meinen Chef frage, ob ich mir für Notfälle eine lokale SIM-Karte zulegen soll, winkt er ab: Im Krisenfall gäbe es sowieso kein Netz. Stattdessen soll ich auf die „Shelter“-Aufkleber achten, die viele U-Bahn-Stationen als bombensichere Bunker ausweisen. Regelmäßig gibt es stadtweite Notfallübungen, bei denen der Verkehr zum Erliegen kommt und die Bevölkerung die Bunker aufsuchen soll.
In den deutschen Medien findet der Atomkonflikt meist nur statt, wenn es eine neue Eskalation gibt. In Südkorea wird dagegen jede Presseerklärung aus dem Weißen Haus und jeder einzelne Tweet Trumps aufmerksam verfolgt. Eine Kriegserklärung per Nachrichtendienst? Nicht mehr undenkbar. Die Recherche zur nordkoreanischen Seite der Geschichte gestaltet sich deutlich schwieriger: Als Quelle gibt es nur die Staatsnachrichten. Außerdem sind viele der nordkoreanischen Internetseiten in Südkorea geblockt, um „die öffentliche Ordnung nicht zu gefährden“.
Eine ausgiebige Presseschau wird zu meinem Morgenritual: Beim Kaffee starte ich mit der englischsprachigen Tageszeitung „Korea Times“. Gemeinsame Militärübungen von US-Truppen und südkoreanischen Streitkräften. Ein Journalist bezeichnet sie als provokantes Angriffstraining. In der U-Bahn höre ich Podcasts aus Deutschland und filtere die Beiträge zu Asien heraus. Parteitag in China. Es wird über Xi Jinpings dreistündige Rede diskutiert. Noch vor Wochen hat China vor weiteren Eskalationen im Atomstreit gewarnt. Zähneknirschend hat die traditionelle Schutzmacht und der wichtigste Handelspartner Nordkoreas die Sanktionen gegenüber Pjöngjang verschärft. Auf Drängen der USA, so scheint es, deren Einfluss man vor der eigenen Haustür nur ungern akzeptiert.
Kurz vor meiner Ankunft im Büro auch noch ein Beitrag zu den Wahlen in Japan: Regierungschef Abe ist wiedergewählt. Hat er mit dem Wahlsieg nun genügend Unterstützung für eine geplante Aufrüstung, um Nordkorea abzuschrecken? Die Logik kommt mir bekannt vor, denke ich noch, als ich das Büro betrete. Den Computer hochgefahren, checke ich als Erstes die englischsprachige Presse. Die „New York Times“ beobachtet: Trump hält sich seit Tagen zurück. Anfang November soll er aber nach Seoul kommen, eine mögliche Pressekonferenz an der Grenze zu Nordkorea bereitet Sorgen. Mein eigentlicher Arbeitstag beginnt schließlich mit der Auswertung von Hintergrundberichten, wobei sich die immer gleichen Fragen zu wiederholen scheinen: Was passiert, wenn Kims Rakete einen der amerikanischen Militärstützpunkte auf der Südseeinsel Guam oder im japanischen Okinawa trifft? Tragen die neuen Sanktionsforderungen aus Europa zu einer Beilegung des Konflikts bei? Die Vermittlungsangebote von Angela Merkel werden als wichtiges Signal gewertet, das in Washington aber kaum Beachtung findet.
„Spreche ich Einwohner auf die Bedrohung an, reagieren die meisten betont gelassen, aber in knappen Worten“
„Wo bleibt Südkorea?“, frage ich mich bei alldem immer wieder. Präsident Moon Jae-in, erst seit Mai im Amt, findet mit Forderungen nach Verhandlungen wenig Gehör – im Zweifel kann er sich einer Entscheidung aus Washington nicht verweigern. Südkorea wirkt in dieser Zeit eher als Spielball internationaler Politik, dessen Schicksal abhängig ist von den Launen der Staatsführer in Washington und Pjöngjang.
Spreche ich Einwohner auf die Bedrohung an, reagieren die meisten betont gelassen, aber in knappen Worten. Niemand will sich zu lange mit dem unliebsamen Thema beschäftigen, im Alltag wird es nur selten diskutiert, und wenn, dann dominieren Sarkasmus und Ironie. „Kim hat uns am Wochenende schon wieder ein Geschenk gemacht“ ist eine Bemerkung, die ich nach dem Wasserstoffbombentest aufschnappe. Sie steht für mich sinnbildlich für den südkoreanischen Umgang mit der ständigen Bedrohung. Und als Mitte Oktober der amerikanische Außenminister erklärt, dass man so lange mit Nordkorea verhandeln wolle, „bis die erste Bombe fällt“, wird dieser Hoffnungsschimmer auf eine friedliche Lösung ebenso achselzuckend zur Kenntnis genommen wie zuvor jegliche Kriegsrhetorik.
„Auch nach zwei Monaten in Seoul frage ich mich noch, woher die äußere Gelassenheit der meisten Menschen hier kommt“
„Seoul ist ohnehin eine der sichersten Städte der Welt“, behauptet ein Student. Er besteht darauf, dass die rund 24.000 in Südkorea stationierten US-Soldaten ein unbeschwertes Leben in Seoul garantieren würden. Tatsächlich laufen in den vollgestopften U-Bahnen auf allen Smartphones Telenovelas und Videospiele. Die Shopping-Malls sind zu jeder Tages- und Nachtzeit gut gefüllt, Bars und Clubs an den Wochenenden gerammelt voll. Es ist ein sonniger Herbst, und die Leute verbringen ihre Freizeit in den Parks und am Han River. Südkorea sei eben eine Spaßgesellschaft und fordere sorgenfreie Unterhaltung ein, erklärt mir ein südkoreanischer Wissenschaftler am Rande einer Konferenz.
Auch nach zwei Monaten in Seoul frage ich mich noch, woher die äußere Gelassenheit der meisten Menschen hier kommt. Liegt es am strengen koreanischen Bildungssystem, das nicht gerade dazu ermutigt, sich öffentlich in politischen Fragen zu positionieren? Ist es der harte Arbeitsalltag, die rare Freizeit, in der man keine Sorgen austauschen möchte? Und welchen Einfluss haben die gesellschaftlichen Hierarchien, die wenig Raum für Kritik lassen?
Ein Unternehmensberater erklärt mir, man lebe schon so lange mit dem Auf und Ab der Krise, dass man sich einfach daran gewöhnt habe. Es sei wie auf der Autobahn: Wenn man das Tempo nur lange genug auf 180 hält, kommt es einem irgendwann nicht mehr schnell vor, sondern nur noch ermüdend. Sorgenloses Fahren ohne Tempolimit also, im Vertrauen darauf, dass es nicht zum Unfall kommt – hoffentlich.
Arne Cremer, 26, studiert Politikwissenschaft in Bonn. Seit September absolviert er ein dreimonatiges Praktikum im Büro Korea der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Titelbild: ED JONES/AFP/Getty Images