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Route wird berechnet

Was tun, wenn auf dem Land kein Bus fährt? Dreimal umsteigen und ewig unterwegs sein. Oder eine neue Buslinie erfinden, wie der 17-jährige Ben

Ben Hennig

Nördlich von Berlin beginnt die Provinz direkt hinter dem Stadtrand. Ein regnerischer Sommertag, Ben Hennig sitzt an der Bushaltestelle vor der alten Dorfkirche in Schildow. Viele Autos fahren vorbei, die Grenze zur Hauptstadt ist nur 200 Meter entfernt. „Aber ohne Führerschein wird es hier im Alltag kompliziert“, sagt der Schüler. Praktisch alle öffentlichen Nahverkehrsangebote seien gekürzt worden, „in alle Richtungen“.

Das brandenburgische Schildow mit seinen knapp 7.000 Einwohnern steht für viele Orte in Deutschland, die mehr schlecht als recht an den Nahverkehr angebunden sind. Die Bahnen und Busse fahren zu selten, zu lang, manchmal gar nicht. Auch die Carsharing-Optionen fehlen. Heißt: Viele Haushalte besitzen mehrere Autos. Schildow ist trotzdem ein besonderer Ort. Weil hier ein Schüler zeigt, wie es besser klappen könnte mit dem ÖPNV, und zwar schnell. Ben hat in Eigenregie eine neue Buslinie erfunden. Projektname: X26. Das X steht für Express. Weil die Schildower möglichst schnell in die Stadt kommen wollten, sagt Ben, ohne vorher mehrfach mühevoll umzusteigen. „Und wenn die Politik es nicht hinbekommt, muss man selber etwas tun.“

Schon als 15-Jähriger tüftelte Ben an der Buslinie

Zwei Jahre tüftelte Ben in seiner Freizeit an der Buslinie, befragte Anwohner zu ihren Mobilitätsbedürfnissen, studierte die lokalen Linienpläne. Heute referiert er im Bushäuschen vor der Dorfkirche über die Probleme der Massenmotorisierung und über intermodale Mobilitätskonzepte, als wäre er studierter Experte. Bleibt eine Frage: Warum tut er sich so etwas an?

Ben lächelt. Er habe durchaus normale Hobbys: Gitarrespielen, Skaten, sein 125er-Motorrad. Aber da sei auch ein Interesse an Politik und daran, Dinge zum Besseren zu verändern. „Ich finde, viel zu viele Leute meckern nur, ob alt oder jung.“

Schildow hat Busverbindungen in die Hauptstadt. Aber die enden irgendwo in den Außenbezirken. Bens X26 dagegen würde bis zum S-Bahnhof Tegel durchfahren, einem Knotenpunkt. „Die Verbindung nach Tegel ist hier sehr gewünscht“, sagt er. Das hätten ihm viele Anwohner gesagt.

Die Bestätigung folgte an einem Samstag im Juni. Mithilfe der Nachbargemeinde Glienicke/Nordbahn konnte Ben eine Probefahrt organisieren: von Schildow nach Tegel, also über Landesgrenzen hinweg, mit einem Doppeldeckerbus der Berliner Verkehrsbetriebe. Mit Flyern machte Ben wochenlang auf das Experiment aufmerksam. „Genießen Sie eine schöne Fahrt im modernen Doppeldecker von Traditionsbus Berlin, ein Erlebnis für die ganze Familie“, stand darauf. Am Tag der Probefahrt kamen so viele an die Haltestellen, dass der Busfahrer gar nicht alle Wartenden mitnehmen konnte. Bei TikTok ist ein Video über die Probefahrt 1,5 Millionen Mal aufgerufen worden, ein Post von rbb24 auf Instagram wurde tausendfach gelikt. Bens neue Buslinie war ein voller Erfolg.

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X26 Fahrplan
The plan and the man

Diese Resonanz beweist, wie wichtig den Menschen gute Mobilitätsangebote jenseits des privaten Pkw sind. Weil sich viele tagtäglich mit dem öffentlichen Nahverkehr rumärgern. Oder sich mit ihren Fahrzeugen durch die wenigen Nadelöhre Richtung Hauptstadt quetschen. Stau ist im Berufsverkehr der Normalzustand, auch in anderen Ballungsräumen um München, Hamburg oder im Ruhrgebiet.

Tut die Politik hier – immer noch – zu wenig? Zumindest in Schildow und Umgebung versucht man schon länger gegenzusteuern. Die benachbarte Gemeinde Glienicke/Nordbahn setzte 2019 einen „Kiezbus“ ein. Er bringt die Menschen bis zum nächstgelegenen S-Bahnhof Berlin-Frohnau. Drei Jahre finanzierte die Gemeinde den Bus, inzwischen habe die Oberhavel Verkehrsgesellschaft (OVG) die Linie in den Nahverkehrsplan übernommen, sagt ein Gemeindesprecher. Glienicke/Nordbahn leidet wie viele andere Gemeinden im Berliner Speckgürtel unter den Pendlermassen.

Ein Extra-Fahrzeug mit großer Wirkung

Logisch, dass man sich hier für das Experiment von Ben interessiert. Ende August lud ihn der Vorstandsvorsitzende der OVG ein, um sich den X26 erläutern zu lassen. Mitgenommen hat Ben nur sein Notebook, auf dem er seine Pläne und Excel-Tabellen zur Buslinie gespeichert hat. Sein X26 hat einen großen Vorteil: Ben erfand keine neue Linie, die viel bürokratischen Aufwand und hohe Kosten bedeuten würde. Der X26 soll die bestehende Route des 806er-Busses fahren – nur eben verlängert bis zum S-Bahnhof Tegel. Und das besonders fix, weil er weniger Stationen anfährt. „Dafür wären statt aktuell drei Fahrzeugen vier nötig – also nur ein Fahrzeug mehr“, sagt Ben.

Dieser Text ist im fluter Nr. 92 „Verkehr“ erschienen

Dem Gymnasiasten könnte so aus seinem Jugendzimmer gelingen, was in Amtsstuben mitunter Jahre dauert oder nie realisiert wird: niederschwellige Alternativen zum Auto zu schaffen. Rund um die Stadtgrenzen dränge die Zeit, sagt ein Sprecher des Brandenburger Infrastrukturministeriums, mehr als sechs Millionen Menschen lebten im Metropolraum Berlin-Brandenburg. Er verweist auf das Mobilitätsgesetz, das Brandenburg zu Jahresbeginn beschloss, um als erstes deutsches Flächenland die Verkehrswende zu schaffen. Ein „landesweites Netz von Bahn und Bus und aus Radverkehrsverbindungen“ soll die ländlichen Räume besser anbinden. Anfang 2024 gab es allerdings 1,48 Millionen zugelassene Pkw in Brandenburg, ein neuer Höchststand. Laut Prognosen soll die Zahl der Pendler erheblich steigen.

Vielleicht braucht das Land mehr Nachwuchstalente, nicht nur im Fußball oder beim Film, sondern auch in vermeintlich drögen Bereichen wie der Verkehrsplanung. Auf kommunaler Ebene sei der Wille durchaus da, sagt Ben. Entscheiden müssten über seine Buslinie aber die Verkehrsbetriebe beziehungsweise Landkreis und Berliner Senat. Bei Verkehrsprojekten zählt, wie in anderen Bereichen auch, das Geld. Eine neue Bus- oder Bahnlinie muss sich rechnen, wird in der Regel argumentiert, durch eine ausreichende Zahl an Fahrgästen zum Beispiel. Die einzelne Linie ist immer defizitär, sagen dagegen Kritiker. Einen Nutzen hat sie erst im Zusammenspiel mit anderen, als Verkehrssystem.

Gerade ist Ben 17 geworden, er darf den Pkw-Führerschein machen. Ein eigenes Auto komme für ihn aber nicht infrage, „aus Prinzip nicht“. Da wartet er lieber auf den Bus.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.