Was sind Pop-up-Radwege?
Plötzlich waren sie da: Mit gelben Markierungen und auffälligen Warnbalken abgetrennte Radwege, die auf stark befahrenen Straßen den Parkstreifen, einen Teil der Fahrbahn oder gleich die gesamte rechte Spur ersetzen. Nach dem Vorbild der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá sind auch in ein paar deutschen Städten seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie Dutzende Kilometer neuer Radwege entstanden. Diese temporären Radwege sollen dafür sorgen, dass die öffentlichen Verkehrsmittel weniger voll sind. Außerdem soll die neue „pandemieresiliente Infrastruktur“ mehr Platz schaffen auf den oft beengten Rad- und Fußwegen, damit der erforderliche Sicherheitsabstand eingehalten werden kann.
In welchen Städten können sie Radfahrende bereits nutzen?
Am 25. März dieses Jahres wurde der erste deutsche „Corona-Radweg“ am Halleschen Ufer in Berlin eingeweiht. Kurz darauf folgten Leipzig, Nürnberg, Stuttgart, Düsseldorf, Hamburg und Ende Juni auch München. Auf insgesamt fünf zentralen Straßen können sich Radfahrende nun bis Ende Oktober auf ehemaligen Autospuren fortbewegen.
Wie werden Pop-up-Radwege umgesetzt?
Normalerweise liegen Jahre zwischen der Planung und dem Bau eines Radwegs. Pop-up-Bikelanes dagegen können innerhalb weniger Wochen errichtet werden, selbst wenn der bürokratische Aufwand ähnlich ist. Es braucht eine straßenverkehrsbehördliche Anordnung, die Sicherheit der Radfahrenden muss gewährleistet sein, und die Auswirkungen auf den Auto- wie auf Busverkehr werden bei der Konzeption berücksichtigt. Auch die Kosten der Radwege werden im Vorfeld kalkuliert: In Berlin belaufen sich die Ausgaben für einen Kilometer Fahrradspur beispielsweise auf 9.500 Euro. Konventionelle Radwege kosten dagegen um die 200.000 Euro pro Kilometer. Je nach Art der Ausführung auch um einiges mehr.
Welche Hoffnungen werden in die neuen Radwege gesetzt?
Laut einer Umfrage des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur besitzen rund 80 Prozent der Haushalte in Deutschland mindestens ein Fahrrad – die tatsächlichen Nutzungen sind Schätzungen zufolge besonders während der ersten Wochen des Lockdowns weiter angestiegen. Die Pop-up-Radwege symbolisieren für viele die Hoffnung auf eine lang diskutierte Verkehrswende: eine Umverteilung des öffentlichen Raums, die Senkung der CO2-Emissionen, eine Verlagerung des Verkehrs hin zu nachhaltigen Transportmitteln.
Befürworter der Radmobilität fordern ein langfristiges Umdenken seitens der Politik. Und mehr Geld. Der Etat 2019 des Bundesverkehrsministeriums zeigt: Während Deutschland 985 Millionen Euro für Fernstraßen ausgegeben hat, wurden lediglich 25 Millionen Euro für Radschnellwege bereitgestellt. Selbst in der Hauptstadt, die vor zwei Jahren das Berliner Mobilitätsgesetz verabschiedete, wurden 2018 4,70 Euro pro Einwohner*in in den Ausbau des Radnetzes investiert. Zum Vergleich: In Utrecht waren es 132 Euro.
Wofür wird das Projekt kritisiert?
Wer täglich mit dem Auto fährt, den können die Pop-up-Bikelanes schon mal stören. Mit der allmählichen Rückkehr zum Prä-Corona-Zustand und zunehmendem Verkehr wird der Straßenbetrieb durch die Reduzierung der Spuren strapaziert. Autofahrende beklagen, dass sie für ihre Fahrten länger brauchen. Diesen Eindruck belegt eine Analyse des Auto-Navigationsherstellers TomTom in München. Sie stellte fest, dass die Reisedauer bei Stoßzeiten um bis zu 86 Prozent zunimmt. Kritik äußerte auch der ADAC, der durch die vermehrten Stop-and-go-Phasen und die innerstädtischen Staus eine höhere Umweltbelastung durch CO2-Ausstoß befürchtet. Das würde dem Vorhaben, die Luftqualität während der Pandemie zu verbessern, widersprechen.
Auch im Berliner Senat sorgen die temporären Radfahrstreifen für Konflikte. Ein Abgeordneter der Berliner AfD klagte gegen die Radwege – und war bis auf Weiteres erfolgreich: Am 7. September entschied das Berliner Verwaltungsgericht, es gebe „ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit“ der Wege und ordnete an, die entsprechenden Markierungen zu entfernen. Allerdings dürfte in diesem Streit das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. Die Senatsverkehrsverwaltung kündigte an, Beschwerde gegen die Entscheidung einzulegen. Das Verwaltungsgericht sprach sich in seinem Urteil auch nicht grundsätzlich gegen die Pop-up-Radwege aus; es stellte nur fest, dass die Stadtverwaltung deren Einführung nicht ausreichend „mit verkehrsbezogenen Erwägungen“ begründet habe.
Dann bleiben die Pop-up-Radwege also eine Übergangslösung?
Das steht auf dem Prüfstand. Aber Verbände wie der ADFC sehen in den temporär angelegten Strecken eine Möglichkeit, ihre Praxistauglichkeit zu testen, um sie bei positiver Resonanz dauerhaft zu installieren. Die Pop-up-Wege könnten auch nach dem Abschwächen der Pandemie Städter*innen dazu animieren, aufs Fahrrad umzusteigen. In Berlin war – bevor das Urteil des Verwaltungsgerichts fiel – geplant, die Radstreifen erst mal bis Ende 2020 zu verlängern und danach womöglich ganz beizubehalten. Wie es in anderen Städten weitergeht, wird in den kommenden Monaten diskutiert. Das Bundesverkehrsministerium hat den Kommunen zum Ausbau der Radinfrastruktur für die nächsten Jahre zumindest 900 Millionen Euro zugesichert – mehr als jemals zuvor.
Fotos: Adlan Mansri