Hans ist ein alter Mann mit alten Knochen und altem, günstigem Mietvertrag. Heute wollte er eigentlich nur einmal in Ruhe sein Bier trinken. Doch auf der anderen Seite des Holztresens müssen sich drei Männer (jung, angetrunken, essend) ja unbedingt um das verdammte Salz streiten.
„Gib mir mal rüber.“ – „Greif doch selber danach.“ – „Es kann doch nicht so anstrengend sein, das Salz diesen EINEN Meter rüberzuschieben.“ Dann wird es kurz noch lauter, bis die Barfrau einen Was-soll-dieser-Blödsinn-Blick hinüberwirft.
Von links dreht sich ein hagerer Mann mit langen grauen Haaren zu Hans. Bisher hatten sie schweigend nebeneinandergesessen. Der Hagere zieht an der Zigarette, die er sich zwischen die steifen Finger seiner linken Hand geklemmt hat, und atmet aus. „Wir sind ’ne Familie“, sagt er. „Aber manche ... sind sehr eigen.“ Der Hagere und Hans (eher kleiner, rahmenlose Brille, Scheißegal-Frisur) schütteln gemeinsam den Kopf. Langsam, fast unmerklich tun sie das. Dann heben sie ihre Gläser.
Dieser Text ist im fluter Nr. 88 „Neukölln” erschienen
Für nicht wenige hier ist diese Kneipe ein zweites Wohnzimmer, und die Menschen hier ein Familienersatz. Es muss schon weit nach Mitternacht sein im Bierbaum 3. Draußen auf der Schillerpromenade ist es still. Keine Uber rollen mehr über das Kopfsteinpflaster, keine Kinder schreien auf dem Spielplatz nebenan. Alle sind sie zu Hause, nichts hat mehr auf. Nur im Bierbaum 3 brennt noch Licht. Im Bierbaum 3 brennt immer Licht.
Es gab mal eine Zeit, da war Berlin die Stadt mit der höchsten Kneipendichte der Welt. Im Jahr 1905 kam auf 157 Berliner eine Kneipe. Heute ist es eine auf 4.000. Und es werden immer weniger. Im Februar musste die Kindl-Klause in der Nähe des U-Bahnhofs Karl-Marx-Straße, keine zwei Kilometer vom Bierbaum 3 entfernt, zumachen. Obwohl sich ein Politiker für sie einsetzte, trotz Gerichtsverhandlungen, war nach fast 40 Jahren Schluss. Die Eigentümer des Hauses hatten „andere Pläne“.
Andere Straße, ähnliches Schicksal: Das Abenteuerland, um die Ecke vom Neuköllner Rathaus, machte irgendwann nach Corona einfach nicht mehr auf. Früher lief hier samstags die Bundesliga, die Spiele von Hertha BSC gab’s sowieso immer live. Heute steht das Lokal leer.
Mit jeder dieser Kneipen verschwindet ein sozialer Raum, der für manche Menschen Heimat bedeutet, für Menschen wie Hans.
Hans kam 1981 aus München nach Berlin, um nicht zur Bundeswehr zu müssen. Ein Jahr später zog er nach Neukölln, studierte Informatik und Mathematik. Hans lächelt kurz, wenn er davon erzählt. Sein Spezialgebiet sei Compilerbau gewesen (ein Programm, das den Quellcode einer Programmiersprache in Maschinencode übersetzt), das habe er gerne gemacht. Doch dann wurde er Ende der 1980er schwer krank, mehr will er nicht sagen. Und als er ein paar Jahre später wieder arbeiten konnte, gab es Heimcomputer, neue Programmiersprachen, Hans hielt nicht mehr mit. Er hebt sein Glas an. Das ADHS habe auch nicht gerade geholfen, sagt er und stürzt den letzten Spuckeschluck hinunter.
Sofort steht die Barfrau da, er reicht ihr sein Glas. „Mit Gemüse?“, fragt sie. Hans: „Is’ ja für umsonst.“ Ein paar Sekunden später hat Hans ein neues Bier vor sich. In der Schaumkrone schwimmt eine Zitronenscheibe. Seit 2001 wohnt Hans im Schillerkiez. Die Mieten waren billig, es gab viel Leerstand, denn der Flughafen war noch in Betrieb, und Hans’ Wohnung lag in der nördlichen Einflugschneise. „Früher war Berlin eine Stadt, wo sie einen in Ruhe gelassen haben“, sagt Hans. Dass sich jemand umdreht und guckt, da müsse man schon was Besonderes bringen. Berlin sei immer tolerant gewesen. Man könne es auch „gleichgültig“ nennen, sagt Hans.
Ihm war auch gleichgültig, als im Jahr 2003 schräg gegenüber seiner Wohnung eine Kneipe eröffnete, in der viele Rocker herumhingen, der Bierbaum 3. Hans ging hin. Sie ließen ihn in Ruhe sein Bier trinken, außerdem gab es ein unschlagbares Frühstücksangebot: Schinken, Wurst, Käse, Salami, Marmelade, Frischkäse, ein Stück Gurke, Tomate, zwei Brötchen und ein gekochtes Ei kosteten nur EINEN Euro. Das Angebot ist inzwischen von der Karte. Hans ist noch immer hier. Genau wie das Motorradmodell, das neben der Eingangstür hängt. Links und rechts davon stehen die Preise auf großen Tafeln.
Futschi (Cola und Weinbrand gemischt): ab 2 €
Schnäpse: ab 1,30 €
Cocktails: ab 5 €
Einen Pott Kaffee kriegt man für 1,50 €. Eine Molle, so nennen Berliner ihr Bier, kostet 3,90 € (0,5 l).
Der Bierbaum 3 besteht aus zwei spärlich beleuchteten Räumen. Vorne steht links die Bar. Zwischen den Hockern steht ein Baum aus Plastik. Manchmal lehnt ein Betrunkener daran und schläft. Die Krone reicht bis unter die Decke, wo Dutzende kleine Motorräder wie Sterne aufgehängt sind. Im hinteren Raum steht der Billardtisch. An den Wänden hängen Hunderte Fotos, wie ein Familienalbum der vergangenen Jahre. Sie zeigen Abdul, den Wirt. Sie zeigen Stammkunden. Sie lachen und liegen sich in den Armen.
Das Highlight im Bierbaum 3 ist die Jukebox – wenn sie nicht gerade außer Betrieb ist. Für zwei Euro bekommt man zwölf Lieder und manchmal wundervolle Szenen. Zum Beispiel, als am frühen Abend ein paar Studierende „Girlfriend“ von Avril Lavigne ballern. Plötzlich schreckt der Hagere neben Hans auf, er hatte nur mal ein wenig gedöst. Jetzt grinst er breit und breiter und setzt zur Luftgitarre an. 30 Jahre sei er Musiker gewesen, erzählt er später. Dann Schlaganfall Nummer 1. Dann Nummer 2. Dann Schlaganfall 3. Seitdem sind seine Finger fast nur noch zum Zigarettenhalten gut. Trotzdem luftgitarrt der Hagere den ganzen Song durch, sogar sein Girlfriend neben ihm wippt mit. Sie sieht ähnlich verlebt aus wie er. Er nennt sie „meine Süße“.
Die Kneipe als Erholungsort des Proletariats
Die Berliner Kneipenkultur ist weltweit fast einzigartig. Das sagt der Schriftsteller Clemens Füsers, und der muss es wissen. Drei Bücher hat er bereits über sie geschrieben. Die klassische Eckkneipe gebe es nur in Berlin, um den Hamburger Hafen und im Ruhrgebiet. München, zum Beispiel, sei einfach nicht proletarisch genug gewesen.
Was meint er damit? Kurzer Rewind ins Jahr 1870, das Zeitalter der Industrialisierung. In Berlin schossen die Fabriken wie Pilze aus dem Boden, die Fabriken brauchten Arbeiter, die Arbeiter brauchten Wohnraum, den sie nur in räudigen Mietskasernen fanden, in denen sie mit ihrer ganzen Familie hausten. Teilweise zu zehnt in einem Zimmer, wie die Tiere, sagt Füsers. Die Kneipe sei also gebraucht worden, zur Erholung.
Also gut, aber was macht eine klassische Berliner Kneipe aus?
Füsers zählt auf:
– Das Bier muss fließen. Im Prinzip sollte der Hahn nie trocken werden.
– Der Wirt muss eigen sein, rau, aber herzlich.
– Nett mögen es die Berliner nicht.
– Hell auch nicht unbedingt.
– Rauchen: Tendenz zu ja.
– Optional: Auf dem Tresen steht ein Glas mit Soleiern.
Das Wichtigste aber sei: Die Berliner Kneipe ist ein Ort für jeden, man dürfe darin sein, wie man will.
Das Kneipensterben sei kein neues Phänomen, Kneipen würden in Berlin schon seit den 1950ern sterben, sagt Füsers. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Mietskasernen passé. Die Leute hatten plötzlich eigene Schlafzimmer, eigene Wohnzimmer, eigene Fernseher, sie mussten die Erholung nicht mehr in die Kneipe outsourcen. Deutschland wurde zur Wohlstandsgesellschaft, und wer Wohlstand hat, der braucht kein billiges Bier mehr, keine Soleier, keine Vitamine aus der Bier-Zitrone. Wen die Wohlstandsgesellschaft aber vergessen hat, der schon.
Letzte Hoffnung Weltkulturerbe
Hans ist gern still, oft scheint er nicht gefragt zu werden, was aber nicht heißt, dass er nichts zu sagen hat. Er kann stundenlang über ChatGPT reden („Nicht mehr als ein stochastischer Wortpapagei“), über Medienkritik („Der fluter wird nur Klischees verbreiten, die in die bürgerliche Ideologie passen“) und am liebsten über Karl Marx und den Kapitalismus („Den Preis der ‚Freiheit‘ zahlen die Armen – egal, ob hier oder in Billiglohnländern“).
Die Berliner Kneipen sterben, weil billiges Bier für Menschen mit wenig Geld den Wirten kaum die Miete zahlt, weil die Mieten zudem steigen, weil Immobilien zum Spekulationsobjekt werden. Das alles sagt auch Clemens Füsers. Er schlägt deshalb vor, die Berliner Kneipen zum Weltkulturerbe zu erklären. Bevor sie ganz weg sind.
Noch aber kommen sie alle im Bierbaum 3 zusammen. Neben den Stammgästen tauchen inzwischen auch Studierende im Bierbaum auf, sagt Hans, und sogar Touristen. Aber sollen sie doch kommen, sagt Hans. Sitzen bleiben werde er sowieso. Er kann nirgendwo anders mehr hin. Er hat einen alten Mietvertrag.