Am späten Donnerstagabend kam noch mal eins. Um kurz nach 22 Uhr am 30. Oktober 2008 dröhnte die Turboprop-Maschine über die Hausdächer, landete sicher, tankte kurz auf und startete wieder. Noch in der Ferne war der Lärm zu hören. Dann herrschte Ruhe im Viertel, diesmal auf Dauer. Mehr als 80 Jahre lang donnerten Flugzeuge, die auf dem Flughafen Tempelhof mitten in Berlin landen wollten, über die Dächer des Schillerkiezes im Westen Neuköllns hinweg. Manchmal so knapp, dass man die Piloten im Cockpit erkennen konnte.
Kein Wunder, dass hier kaum jemand, der sich etwas anderes leisten konnte, freiwillig wohnen blieb. Damals war der Schillerkiez, benannt nach der zentralen Straße Schillerpromenade, eine der ärmsten Ecken der Stadt. Sperrmüll vor den Häusern, verwahrloste Wohnungen.
Doch 2008 wurde der Airport Tempelhof dichtgemacht, und als zwei Jahre später das ehemalige Flugfeld seine Tore für jede und jeden öffnete, wurde aus einem Problemviertel am Rande eines Flughafens eins der beliebtesten Altbauquartiere Berlins, an das ein riesiger Park grenzt: das Tempelhofer Feld. 300 Hektar zum Spazieren, Joggen, Inlineskaten oder einfach nur, um den Sonnenuntergang anzuschauen, und das mitten in der Großstadt, wo man den Himmel in vielen Straßenschluchten kaum sieht.
Hinzugezogene, Alteingesessene, Bürgerinitiativen und Investoren ringen um die 300 Hektar große Fläche
Seitdem ist das Tempelhofer Feld eine der größten innerstädtischen Freiflächen der Welt, und Hinzugezogene, Alteingesessene, Bürgerinitiativen und Investoren ringen miteinander um seine Zukunft und die des benachbarten Viertels. Es geht um zentrale Fragen der Stadtentwicklung, die sich an vielen Orten in Deutschland stellen: Wie halten wir es mit der Gentrifizierung? Wie viel öffentlichen Raum braucht eine moderne urbane Gesellschaft?
Der Schillerkiez ist wie ein rechteckiges Dorf mit Kopfsteinpflaster, begrenzt von zwei großen Straßen und zwei Parks. In diesem Rechteck leben laut Zahlen von 2021 rund 16.000 Menschen, die meisten in Altbauten, von denen jetzt immer mehr saniert und damit teurer werden, während andere weiterhin eher runtergerockt in den Straßen stehen. Ebenso gegensätzlich wie die Hausfassaden ist das ganze Quartier: hier ein kleiner Blumenladen oder ein alter Späti mit Stammkundschaft und Bierbänken davor, dort ein neues Restaurant mit europäisch-mexikanischem Fusion-Essen oder ein genderneutraler Friseursalon, aus dem Techno auf den Fußweg pumpt. Immer mehr Menschen hier können sich jetzt so etwas leisten. Und über den Wochenmarkt auf dem Platz vor der Genezarethkirche schlendern samstags immer mehr Eltern mit Nachwuchs in sehr teuer aussehenden Kinderwagen.
„Vor unserer Tür prallen wirklich Welten aufeinander“, sagt Pfarrerin Susann Kachel, 45, die im Anbau neben der Kirche am Laptop sitzt. Sie arbeitet u.a. mit am Pilotprojekt „Startbahn“, das die Kirche als „Raum für Begegnungen und Vernetzungen“ neu positionieren will – etwa mit einem Pop-up-Hochzeitsfestival für Kurzentschlossene oder mit dem Auftritt eines queeren Chors auf dem Gebäudevordach. Solche Projekte würden natürlich vor allem die neu Zugezogenen im Viertel ansprechen, sagt Kachel, und die Jüngeren. Rund 55 Prozent der Kiezbewohnerinnen und -bewohner sind laut Angaben aus 2022 zwischen 18 und 45 Jahre alt – und nur 9,2 Prozent über 65.
Eine Ecke weiter bietet der „Mädchen*treff Schilleria“ für alle weiblichen, inter, nichtbinären und trans Personen „Empowerment- und Freizeiträume“. Das bedeutet: gemütliche Sofas, Tanzworkshops, politische Bildung, Gelegenheit zum Chillen. Der geräumige Eckladen mit Graffiti an der Fassade ist inzwischen eine gefragte Immobilie. Die Miete soll erst vor ein paar Jahren verdreifacht worden sein, sie frisst jetzt einen Großteil des Etats, sodass manchmal nicht mehr genug für Programm und Projekte übrig bleibt. „Und unsere Mädchen erzählen uns, dass sie sich im Kiez nicht mal mehr die Pommes nach der Schule leisten können, bevor sie zu uns kommen“, sagt Sevim Uzun, die hier aufgewachsen ist und jetzt als Erzieherin für die Schilleria arbeitet.
Mit solchen Beobachtungen ist Uzun nicht allein: In der Änderungsschneiderei mit dem ausgeblichenen blauen Schild muss die Betreiberin nach eigener Aussage mittlerweile quasi rund um die Uhr arbeiten, um ihre steigende Miete zahlen zu können. Und im alteingesessenen Frisiersalon „Daniela“ ein Stück die Straße runter schießen der Inhaberin die Tränen in die Augen, weil ihr gerade der Laden gekündigt wurde. Sie hat jetzt keine Lust, zu reden.
In keinem Berliner Bezirk sind die Immobilienpreise zuletzt so stark gestiegen wie in Neukölln, die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete von einer 60-Quadratmeter-Wohnung im Schillerkiez für mehr als eine halbe Million Euro.
Wäre es da nicht eine gute Lösung, auf dem Tempelhofer Feld neue Häuser zu bauen, am besten günstige Sozialwohnungen?
Tatsächlich hatte der Berliner Senat damals vor, nicht das ganze Feld, aber einen ca. 200 Meter breiten Streifen am Rand zu bebauen. Nicht nur mit Wohnungen, sondern auch mit Gewerbeflächen und öffentlichen Bauten wie einer Landesbibliothek. Dagegen formierte sich schnell eine Bürgerinitiative, die dem Senat unter anderem vorwarf, viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum schaffen zu wollen und die Gentrifizierung durch teure Wohnungen auf dem Feld voranzutreiben. 2014 sprach sich in einem Volksentscheid eine Mehrheit dafür aus, dass das Tempelhofer Feld nicht bebaut wird, ein entsprechendes Gesetz wurde verabschiedet.
Seitdem sind die Diskussionen um das Feld nie verstummt, womöglich auch, weil Berlin von 3,47 Millionen Menschen (2014) auf 3,76 (2022) gewachsen und die Wohnungsnot noch größer geworden ist. Neun Jahre nach dem Volksentscheid denkt ein neu gewählter Senat nun darüber nach, es noch mal zu probieren: Laut Koalitionsvertrag von CDU und SPD soll ein städtebaulicher Wettbewerb zumindest ausloten, welche Möglichkeiten es für eine Randbebauung gibt.
Keine Bebauung auf dem Tempelhofer Feld, fordern viele. Auch nicht ein bisschen, auch nicht am Rand
Doch die Beschützer und Beschützerinnen des Feldes sind wachsam. „Das hier ist ein Seelenort für sehr viele Menschen, nicht nur aus den umliegenden Kiezen“, sagt Peter Broytman, 41. Er wohnt im Schillerkiez, geht gern mit seinem Hund auf dem Feld spazieren – und ist einer von sieben gewählten Feldkoordinatoren, die im Auftrag der Berlinerinnen und Berliner über die transparente und gerechte Nutzung des Areals wachen. „Wir haben den Entschluss gefasst, dass wir uns auf allen Ebenen dafür einsetzen, dass das Tempelhofer-Feld-Gesetz in der jetzigen Form weiter Bestand hat“, sagt er.
Heißt: Die Feldkoordinatoren sind strikt gegen jede Bebauung. Auch nicht ein bisschen, auch nicht nur am Rand. Denn das wäre womöglich ein Dammbruch, meinen sie, danach würde nach und nach immer mehr vom Feld abgezwackt. Und was ist mit den ärmeren Menschen, die aufgrund der explodierenden Mietpreise in viel zu kleinen Wohnungen sitzen? „Wo sonst könnten solche Leute Familienfeste feiern?“, fragt Broytman zurück. Die Menschen in der Stadt bräuchten öffentliche Orte ohne Konsumzwang.
Etwas Ähnliches schwebt Cléo Mieulet, 52, auch für das ehemalige Flughafenterminal vor. Das ragt hinter ihr in den Himmel, abweisend und grau, ein über 1,2 Kilometer langer Bogen aus Beton, Stein und Stahl, 7.266 Räume, mehr als 300.000 Quadratmeter Geschossfläche. Das Gebäude wurde ab 1936 im Auftrag der Nationalsozialisten errichtet und war damals das größte Einzelbauwerk Europas. Heute leben in zwei der sieben Hangars Geflüchtete, ein paar Trakte mietet die Polizei, gut ein Drittel der Fläche kann aufgrund des schlechten baulichen Zustands nicht genutzt werden. Mieulet hat das „Transformationsbündnis THF“ mitgegründet. Es setzt sich dafür ein, dass im Flughafengebäude künftig erforscht wird, was eine Stadt dem Klimawandel entgegensetzen könnte – mit Begegnungsorten für die Nachbarschaft und Werkstätten für postfossile Techniken. Vom Senat bekommt sie dafür keine politische Unterstützung. Wie es mit dem Bündnis weitergehen soll, ist daher ebenso unklar wie die Zukunft des Gebäudes.
Mieulet aber gibt die Hoffnung nicht auf. Hier gibt es schließlich immer wieder Überraschungen. Zwei Jahre nach der Schließung etwa landete doch noch mal ein Flugzeug auf dem Flugfeld: Eine Sportmaschine legte zwischen Skatern und Grills eine Notlandung hin, der Motor war ausgefallen. Als der Pilot und seine drei Passagiere mit wackeligen Knien aus der Maschine kletterten, war die Begrüßung laut „Tagesspiegel“ wohl ziemlich Neukölln-typisch: „Habt ihr 'ne Meise?“, pflaumten Parkbesucher die Gelandeten an. Danach aber gab es erst mal was zu trinken.
Dieser Text ist in fluter Nr. 88 „Neukölln” erschienen.
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