Es gab in Uetersen einen Angelladen, der war ein Paradies für jeden Angler. Ist noch gar nicht lange her. Man konnte hineingehen, Dinge anfassen und ausprobieren, mit dem Händler fachsimpeln. Der Laden war das, was man selbstständigen stationären Einzelhandel nennt: Er gehörte nicht zu einer Kette, er hatte keinen Online-Ableger, er war einfach ein kleiner Laden. Irgendwann aber stellten immer mehr Kunden bloß noch Fragen, um dann, tipptopp beraten, zu Hause im Internet auf Schnäppchenjagd zu gehen. Das war das Ende des Angelladens. Wo er seine Türen schloss, bietet kein Händler mehr etwas an. Weder Gratistipps noch Güter gegen Geld. Dort ist jetzt: Leerstand.
Und nicht nur dort. Es hat ja einen Grund, dass es in der Stadtverwaltung etwas gibt, das sich Leerstandsmanagement nennt. Erfunden hat es Meike Koschinski, 56, zuständig für Wirtschaftsförderung. Das Management bedeutet im Wesentlichen, leer stehende Objekte anzupreisen. Außerdem versucht Koschinski, Zwischennutzungen anzuschieben: Lokale Künstler sollen in gerade unbenutzten Geschäften ausstellen. Eine Win-win-Situation, könnte man meinen. Aber Uetersen ist nicht Berlin. Also sind überall Schaufenster, durch die man ins staubige Nichts sieht, daneben zugeklebte oder verhängte Ladenfronten. Meist ist noch auszumachen, was dahinter mal war: ein Feinkostgeschäft, ein Juwelier, eine Tierhandlung. In manchen Fenstern hängen Werbeschilder von Maklern. In anderen hängt gar nichts mehr.
Viele Leute in Uetersen sagen: Uetersen ist tot.
Uetersen liegt nicht am Ende der Welt, sondern im Speckgürtel von Hamburg, 30 Kilometer nordwestlich der Metropole. Das ist gut, weil die Nähe zu einer Großstadt eine kleine Stadt attraktiver macht. Das ist schlecht, weil die Nähe zu einer Großstadt einer kleinen Stadt die Luft abdrückt. Jedenfalls wenn’s ums Geschäft geht. In der Großstadt gibt es alles und von allem mehr. Allein schon durch die großen Ketten, die Kundschaft anlocken, von denen der kleinere Einzelhandel drumherum profitiert. Uetersen mit seinen gut 18.000 Einwohnern ist für Unternehmen wie Saturn oder H & M, die junge Kundschaft interessieren könnten, zu klein, nur ein weißer Fleck auf der Filialnetzkarte. Supermärkte sind auch Kundenmagneten, essen muss ja jeder. Aber die werden heute auf der grünen Wiese gebaut, auch in Uetersens Umland. Parken ist dort einfacher, alles ist so praktisch. Meike Koschinski aber kämpft weiter für die Innenstadt. Einkaufen, sagt sie, bedeute doch auch, andere Menschen zu treffen, sich auszutauschen.
Uetersens Stadtkern bildet seit 1981 eine Fußgängerzone nahe dem Marktplatz. Seinerzeit waren diese konsumorientierten Flaniermeilen sehr en vogue. 33 Jahre später ist für Leute, die es billig und bequem wollen, und für eine Generation, die übers Internet shoppt und schwatzt, so ein Ort sehr von gestern. Erst recht, wenn er aussieht wie Uetersen.
2008 gab die Stadt ein Einzelhandelsgutachten in Auftrag. Unter anderem kam heraus, dass das Zentrum städtebaulich nicht einladend sei. Das war zwar schon vorher jedem klar, niemand schwärmte vom Charme der Fußgängerzone. Aber nun war es sozusagen offiziell als Aufruf zum Handeln formuliert. Passiert ist seitdem: nichts von Bedeutung. Die Stadt Uetersen ist pleite. Sie kann bestenfalls Workshops zum Ideenaustausch initiieren. Zum Beispiel zu "PACT", einem schleswig-holsteinischen Gesetz von 2006. PACT steht für "Einrichtung von Partnerschaften zur Attraktivierung von City-, Dienstleistungs- und Tourismusbereichen". In manchen Kommunen wird schon paktiert, in Uetersen fühlt man sanft vor, wie belastbar die Zielgruppe ist. PACT bedeutet nicht zuletzt, dass Immobilienbesitzer, und dazu gehören viele alteingesessene Einzelhändler, für kollektiv beschlossene Verschönerungen wie neue Gehwege zur Kasse gebeten werden.
Die Uetersener Fußgängerzone bildet das Mittelstück einer über Jahrzehnte von Handel und Gewerbe geprägten Straßenachse, die über eineinhalb Kilometer von der Altstadt Richtung Osten bis zum Industriegebiet führt. An diesem Ostrand liegt das Haushaltswarenfachgeschäft Heinz Lembke. Seit über 60 Jahren bekommt man hier praktisch alles – vom Vertikutierer bis zur Vase; Beratung sowieso. Weiß auch jeder, jedenfalls, wenn er Haus und Garten hat.
Mit einem zickigen Dampfkochtopf geht man zu Lembke, die ziehen einen neuen Dichtungsring aus einer ihrer Wunderschubladen, und alles ist wieder paletti.
Hat so viel Liebe zu Kram und Kundendienst Zukunft? Wie viele Menschen benutzen noch Dampfkochtöpfe? Wer kauft sein großes Kaffeeservice noch vor Ort? Statt in Hamburg. Oder im Internet. Wer kauft überhaupt noch ein großes Kaffeeservice? Und werden die, die heute jung sind, wenn sie sich eines Tages doch für Geschirr statt für Smartphones interessieren, noch in Haushaltswarenfachgeschäfte gehen? Statt in Shoppingcenter. Oder ins Internet.
Selbstständige stationäre Einzelhändler sind traditionell Familienunternehmen. Sie haben keine vor Kreativität krachenden Namen, sie heißen nach ihren Gründern: In Uetersen kauft man Fotoapparate und Zubehör bei Lavorenz, Spiele bei Wientapper, Betten bei Behrens und so weiter. Manche dieser Geschäftsleute haben ihre Nachfolge geregelt. Bei anderen fehlt es an interessierten Erben und potenziellen Käufern; vor allem wenn die Läden dringend modernisiert und die Immobilien komplett saniert werden müssten. Und dann muss es ja auch noch eine Nachfrage geben. Eine echte Nachfrage. Das Modehaus Behr, gegründet 1834, schaffte vier Generationswechsel, bis es 2007 schließen musste. Es gab keine Nachfolger, aber eben auch keine überwältigende Nachfrage. Trotzdem hinterließ diese Geschäftsaufgabe in der Stadt einen Phantomschmerz. Heute vermissen Leute Behr, die bei Behr nie gekauft haben.
Einzelhandel ist harte Arbeit, man muss wissen, welche Kundschaft man anpeilt, Zeit und Geld investieren, damit sie kommt, und noch mehr, damit sie bleibt. Das weiß auch Nina Reinhold, 37, Chefin von Pittis Jeans. Pittis Jeans hört sich nach Kette an, ist aber ein Familienunternehmen, nur dass hier ein Vorname Pate steht. Pittis hat das Männersegment rausgeschmissen – brachte nicht genug. Auch die Zeiten, in denen der Laden unter Teenagern angesagt war, sind lange vorbei. Heute konzentriert sich das Angebot auf erwachsene Frauen. Man müsse die Kuh melken, die ertragreich sei, sagt Reinhold. So umgarnt Pittis seine Kundinnen mit Mailings und Modenschauen. Persönliche Ansprache ist das Pfund, mit dem Einzelhändler wuchern können. Reinhold sagt, die Geschäfte liefen gut.
Mitte der Nullerjahre machten sich zwei junge Frauen selbstständig, die eine mit einem Feinkostladen, die andere mit einer Weinhandlung. Das erweiterte die Uetersener Angebotspalette. Beide Läden fanden ihr Publikum. Allerdings nicht genug. Natürlich gibt es in Uetersen Leute mit Geld und Geschmack. Aber wenn schon, dann kann man ja auch gleich nach Hamburg fahren, um sich mit Delikatessen einzudecken. Oder Wein im Internet bestellen. Der Feinkostladen gab auf, die Weinhandlung nicht. Doch auch neun Jahre nach der Eröffnung kann die Betreiberin Sabine Handschuh von dem, was der Laden abwirft, nicht leben. Sie hat keine Angestellten, der Job ist Selbstausbeutung. Es hilft ihr über Sinnkrisen hinweg, dass sie ihn so gern macht. Und dass ihre Familie sie unterstützt. Handschuhs Laden hat eine gute Lage am Marktplatz, kostenlose Parkplätze vor der Tür. Die Geschäfte links und rechts jedoch stehen leer, eines seit Herbst 2012. Obwohl die Mieten fallen.
Jenseits dieser besten Lagen sieht es noch prekärer aus. In der unwirtlichsten Ecke der Fußgängerzone gab gerade ein billiger Klamottendiscounter auf, wenig später eröffnete der nächste. Gegenüber existiert seit Ewigkeiten das Kaufhaus Woolworth. Das ist keine exklusive Adresse, aber als der Woolworth-Konzern vor ein paar Jahren ins Trudeln geriet, hatte man in Uetersen furchtbare Sorge. Woolworth ist für Uetersener Verhältnisse ein Frequenzbringer. Wenn der Betonklotz leer stehen würde – nicht auszudenken. Ohnehin frisst sich die Tristesse ins Herz der Stadt: Leerstand am Marktplatz, und auch neben Woolworth ist ein ehemaliger Tabakladen vernagelt, zwei Häuser weiter hat ein Lebensmittelladen aufgegeben, wieder zwei Häuser weiter wurde eine Goldschmiede geschlossen. Daneben: ein Modediscounter, eine Fußpflege, eine Änderungsschneiderei. An diesem östlichen Ende der Fußgängerzone offerierte bis 2006 das elegante Modegeschäft Münster Designerware, es kam erlesene Kundschaft, sogar Prominenz aus Hamburg. Jetzt nutzt ein Nagelstudio die Räume, auf den Scheiben prangt fette Werbung für Acrylauffüllungen. Trading down nennt man das: Es gibt eine Abwärtsspirale mit billigen und noch billigeren Läden.
Ein paar Hundert Meter weiter, in der kleinen, feinen Altstadt am Ortsrand, halten sich ein paar alteingesessene Restaurants und Geschäfte. Eines ist die Buchhandlung Schröder. Karin Kersten hat sie 1982 von ihrer Mutter übernommen. Goldene Zeiten. Heute gibt es Onlinehändler. Weil außerdem das Internet ja alles weiß, kauft auch niemand mehr Lexika, Wörterbücher, Ratgeber, einst Broterwerb einer Buchhandlung. Karin Kersten ist jetzt 66 Jahre alt, sie muss langsam über ihre Nachfolge nachdenken. Strotzend vor Zuversicht ist sie nicht. Auf Stellenausschreibungen bekommt sie Bewerbungen ausgebildeter Buchhändler aus dem ganzen Land. Aber wer will noch ein Geschäft auf eigenes Risiko führen? In dieser Branche! In Uetersen!? Uetersen, das bedeutet übrigens "äußerstes Ende". Aber Uetersen ist überall.