Lange Zeit brachte London die trendbewussten Franzosen zum Schwärmen, doch die europäische Stadt der Stunde ist eindeutig Berlin. Die deutsche Hauptstadt gilt manchen als besonders lebenswerter Ort, kosmopolitisch, voller Kultur und viel günstiger als Paris. Man sieht Berlin nicht mehr wie frühere Generationen als preußisches Machtzentrum oder zerrissene Stadt. Als einen Ort mit düsterer Vergangenheit.
Seit der Jahrtausendwende ist die Stimmung in Frankreich vor allem durch die Wirtschaftskrise schlechter geworden, und immer sehnsüchtiger schaut man nach Deutschland. „Leben wie ein Franzose in Berlin“ heißt es heute, so wie es früher in Deutschland hieß: „Leben wie Gott in Frankreich“. So haben sich die Zeiten geändert.
Auch ich habe mich in Berlin verliebt, wo ich vier Jahre lang gelebt habe. Ich kam um das Jahr 2000 herum, als die Regierung von Bonn nach Berlin umzog und sich die Mietshäuser im Prenzlauer Berg noch nach DDR anfühlten. Eine Zeit, in der der Ostteil der Stadt vom Reichtum weit entfernt war, in der Luxusgeschäfte noch undenkbar waren. Ich liebe auch die deutsche Sprache, musikalisch wie das Italienische, aber so kraftraubend zu lernen. Der deutschen Küche kann ich wenig abgewinnen, außer im Frühjahr zur Spargelzeit.
Seit Kriegsende blicken die Franzosen wohlwollend auf die Bundesrepublik. An ihrer florierenden Wirtschaft nahm man sich ein Beispiel, in der Freundschaft wurde man vom Bundeskanzler und vom Präsidenten bestärkt. Erst von de Gaulle und Adenauer, später von Giscard und Schmidt und Mitterrand und Kohl. Als ich noch Deutschlandkorrespondent war, war Kohl in der Bevölkerung wenig beliebt. Wir Franzosen aber liebten ihn. Er hatte Deutschland geeint, ohne Europa zerbrechen zu lassen. Er kämpfte für den Euro. Kohls Deutschland und Frankreich waren ebenbürtige europäische Partner. Das hat sich geändert. Viele Franzosen haben den Eindruck, dass die gute Beziehung zwischen beiden Ländern in den letzten Jahren zunehmend verkrampfter wurde.
Deutschland floriert zwar noch immer, was die Franzosen weiterhin bewundern, doch in die Bewunderung schleichen sich Neid und Missgunst. Der Vorwurf lautet, dass Deutschland die Europäische Union in ein deutsches Europa verwandelt hat und dass es Europa vor allem mit Blick auf die eigenen Belange führt. Nach Fukushima beschloss man die Energiewende und schmiss die Kohlekraftwerke wieder an, ohne es mit den europäischen Partnern abzusprechen. Man entschied sich im Alleingang für die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen: Großzügig, aber die Sogwirkung der Entscheidung traf auch die europäischen Nachbarn. Deutschland möchte eine größere Rolle in der internationalen Diplomatie spielen, aber sobald es darum geht, Soldaten irgendwo hinzuschicken, sind die Deutschen plötzlich sehr still.
Exportrekorde, sinkende Arbeitslosigkeit, dazu noch ein großes Herz für Flüchtlinge – manchmal geht uns unser tugendhafter Nachbar ein bisschen auf die Nerven. Besonders dann, wenn wir den Eindruck haben, dass die Deutschenn europäischen Ländern vorschreiben, wie sie zu leben haben – oder besser: wie sie zu sparen haben. Und wir sehen auch ohne deutsche Überlegenheitsgesten, dass unsere Wirtschaft mittlerweile so abgehängt ist, dass wir auch politische Macht in Europa eingebüßt haben. Da tut es fast gut, wenn die tugendhaften Deutschen bei Betrügereien wie dem Volkswagen-Skandal erwischt werden.
Deutschlands Rolle in Frankreich ist größer geworden, das sieht man auch daran, dass es momentan in der Präsidentschaftswahl stets Thema ist. Nicht, dass wir noch über die Nazivergangenheit sprechen (das überlassen wir den Engländern, die sowieso nichts von deutsch-französischer Freundschaft verstehen), die Kritik an den Deutschen betrifft eher die Gegenwart – und sie kommt von ganz links und ganz rechts. Im Europäischen Parlament hat Marine Le Pen Ende 2015 den französischen Präsidenten François Hollande als „Vizekanzler unter Angela Merkel“ bezeichnet, als „Verwalter der Provinz Frankreich“. Sie warf ihm vor, sich von Berlin den Kurs diktieren zu lassen. Ganz links bezeichnet Jean-Luc Mélenchon, Kumpel von Oskar Lafontaine, die Deutschen als Imperialisten, die ihre Nachbarn mit Exportüberschüssen ruiniert haben.
Bei so viel Verbitterung zittern die Germanophilen in Frankreich. Sie wissen, dass es unumgänglich ist, offen mit den Deutschen zu sprechen, um eine neue Vertrauensbasis zu finden. Eine Bedingung dafür ist eine Sanierung Frankreichs. Das zumindest ist die These von einem der aussichtsreichsten Kandidaten für das Präsidentenamt, dem Sozialliberalen Emmanuel Macron. Die zweite Bedingung aber ist, dass sich Deutschland nicht im Status quo einrichtet. Dass auch Deutschland sich ändert, mehr an die anderen Länder denkt, weniger an die eigenen Interessen. Frankreich und Deutschland müssen die Union von Grund auf neu gestalten. Die gute Nachricht ist, dass ihre Verbindung stark genug ist, das zu schaffen.