Der weiße Lieferwagen hält an der roten Ampel. Sieben Männer steigen aus. Lange Bärte, Schläfenlocken, Gebetsschal: orthodoxe Juden. Sie öffnen die Heckklappe, ohrenbetäubende Trance-Musik dringt aus dem Wagen. Die Männer johlen, tanzen zum Bass um das Auto, fassen sich bei den Händen, hüpfen im Kreis. Bei jedem Sprung wippen Gebetsbänder und Bärte. Ein paar Touristen drücken eilig auf den Auslöser, sonst nimmt kaum ein Passant Notiz. In Tel Aviv kennt man die Na Nachs, eine Splittergruppe des orthodoxen Judentums, die an eine transzendentale Wirkung der Musik glaubt. Sie gelten als Glücksbringer: Auf Hochzeiten betanzen sie das Paar nach der Trauung, vor einem Einsatz besuchen sie die Streitkräfte. Hauptsache laut, Hauptsache heilig. Ihre oberste religiöse Pflicht: glücklich sein.
„Wir müssen alle aufwachen“
Auch Na-Nach-Anhänger Noam Nativ fährt regelmäßig mit seinen Glaubensgenossen im Bus durchs Land, um mit Musik die heilige Nachricht zu verbreiten: „Wir müssen alle aufwachen. Glücklich sein, lebendig sein. Das ist unsere Nachricht. Und für mich ist das heilend.“ Noam sitzt auf seiner Terrasse in Ganay Tal, einem kleinen Dorf südlich von Tel Aviv, hauptsächlich bewohnt von religiösen Juden. Hier fahren kleine Mädchen in langen Röcken Rollschuh, Mütter stehen an weißen Zäunen, und Jungen kehren von der Jeshiva, der Thoraschule, heim. Gitarrenakkorde klingen aus einer Gartenlaube. Vor der Garage steht Noams Auto, das mit farbenfrohen Aufklebern gepflastert ist. Sätze wie „Es ist deine große Pflicht, immer glücklich zu sein“ stehen da in grellen Neonbuchstaben. „Wenn du etwas zerbrechen kannst, kannst du es auch reparieren“ oder: „Die Welt ist eine sehr enge Brücke. Aber es ist wichtig, nie Angst davor zu verspüren“. Es sind die Zitate des Rabbis Nachman von Breslow, der die Bewegung vor 200 Jahren in der Ukraine begründet und ihr seinen Namen gegeben hat. Für seine Verehrer ist er Popstar, Weiser, eine Vaterfigur. Jedes Jahr zum jüdischen Neujahrsfest im Herbst pilgern die Gläubigen nach Uman in der Ukraine, wo Nachman von Breslow begraben liegt. Im letzten Jahr tanzten rund 40.000 Menschen um seinen Schrein.
Heute findet man den Namen des Rabbis als berühmtes kabbalistisches Mantra Na Nach Nachman Meuman überall im Land als Graffiti auf Hauswänden, Zügen, Autobahnbrücken. Nicht jeder ist über die Graffiti glücklich, auch in der Community sind sie umstritten – dort nicht nur wegen des illegalen Sprayens, sondern auch wegen ihrer Aufdringlichkeit. Noam hat es in großen blauen Lettern auf seine gehäkelte Kippa gestickt. „Man kann es singen, sagen, chanten, immer wieder. Es gibt überall Hoffnung“, erklärt er und nimmt die Gitarre zur Hand. Fast jeder Na Nach macht Musik, singt, tanzt und hüpft zumindest im Takt auf und ab. Das gehört dazu. „Das ist unsere große Medizin. Und Trance-Musik – die hat Power. Wenn man die richtigen Texte und Gedanken hinzufügt, kann sie einen an großartige Orte katapultieren. Die Leute lieben diese Musik.“
Mit knapp 30 Jahren hat der Biologe und Programmierer gemeinsam mit seiner Frau bereits fünf Kinder. Die Familie lebt nach religiösen Regeln: Die Küche ist koscher, der Schabbat heilig, Geschlechterrollen konservativ. Trotzdem sind viele Na Nachs dafür bekannt, weltgewandter und offener zu sein als die Mehrheit der orthodoxen Juden. Noam arbeitet in einer IT-Firma, ist bereits mehrmals mit dem Rucksack durch die Welt gereist, raucht Marihuana und findet, dass Bob Marley und Pink Floyd es „auch echt verstanden“ haben.
Um die Na Nachs gibt es auffallend viele Geschichten von Drogenexzessen, Verhaftungen und Traumata
Nicht alle, aber viele Mitglieder der Na Nachs mischen Moderne und Tradition auf diese Art und Weise, erklärt Dr. Tomer Persico, Dozent für vergleichende Religionswissenschaften an der Universität Tel Aviv. Seit vielen Jahren befasst er sich mit den Ausprägungen des mystischen Judentums, dem sogenannten Chassidismus, zu dem auch die Na Nachs gehören. Sie seien, so der Akademiker, mittlerweile fester Bestandteil der israelischen Popkultur geworden: „Es ist unfassbar, was in den letzten 20 Jahren mit der Breslow-Gemeinschaft passiert ist. Es gibt sie in der Kunst, sie performen und schreiben Popsongs, Geschichten, Bücher, das ganze Programm.
Und dann sind da natürlich diese Leute, die auf der Straße herumspringen. Es ist unmöglich, sie nicht zu bemerken.“ Die Offenheit der Bewegung mache sie sehr attraktiv für allerlei Gestrandete und Verwundete, denen die strengen Regeln der religiösen Gemeinde fremd sind: „Ich würde sagen, dass wahrscheinlich 80 Prozent oder mehr von ihnen nicht religiös aufgewachsen sind. Sie kommen aus der säkularen Welt, oft mit all ihren Bürden, Blessuren und Schwierigkeiten.“
Bei Na-Nach-Anhängern gebe es auffallend viele Geschichten von Drogenexzessen, Verhaftungen, Traumata. In der Breslow-Gemeinschaft finden viele von ihnen Halt. Darin ähnele sie der zweiten großen kabbalistischen Strömung, dem Chabad, dessen Gemeindemitglieder dafür bekannt sind, gerade in Indien und Südamerika – den beliebtesten Reisezielen junger Israelis nach dem Militär – nach neuen Mitgliedern zu suchen. In sogenannten Chabad-Häusern kümmert man sich um die jungen Backpacker und frisch entlassenen Soldaten, die gerade erlittene Traumata mit Drogen zu betäuben suchen. Auch Noam kann auf eine solche Vergangenheit zurückblicken. Er erinnert sich an Jahre der Depression und des Alkohols. Sein Beruf als Molekularbiologe und die Arbeit im Labor erschienen ihm wie ein Gefängnis, erzählt er. Von den Na Nachs habe er schon als Teenager viel gehört und gelesen, richtig dazugehören wollte er erst nach seiner Krebserkrankung vor drei Jahren. „Im Krankenhaus, zwischen all dem Grau und all den Schläuchen, spürte ich diese Wärme, dieses Licht, das von nirgendwo kam. Manch einer würde es Erleuchtung nennen. Rabbi Nachman hatte mich besucht“, erzählt er.
Jeden Tag nimmt Noam sich eine Stunde Zeit, um in stiller Meditation zu Gott zu sprechen. Er geht in den Wald hinter dem Haus, sitzt alleine auf der Terrasse, fährt mit dem Auto ans Meer. Es handelt sich dabei um das sogenannte Hitbodedut, einen zentralen Aspekt der Lehre des Rabbis Nachman. Mit Gott, so der Kabbala-Rabbi, solle man nicht wie mit einem Gebieter, sondern wie mit einem guten Freund sprechen. Ohne eingeübte und auswendig gelernte Gebete. ‚‚Es gibt viele Breslow-Anhänger, denen sind wir Tanzenden zu laut und nicht ernsthaft genug. Wir sind uns nicht alle einig, wie man die Nachricht des Rabbis am besten verbreitet. Aber das Hitbodedut, das machen wir alle“, fügt Noam hinzu. Es ist eine Lehre, die unter einigen Strenggläubigen für fast genauso viel Unmut sorgte wie Rabbi Nachmans Aussage, er sei der letzte wahre Rabbi vor der Wiederkehr des Messias. Natürlich seien die Breslower-Juden vielen Ultraorthodoxen ein Dorn im Auge, betont auch Religionswissenschaftler Persico.
„Kabbala“ bezeichnet eigentlich die religiöse Überlieferung im Allgemeinen, wurde aber im Laufe der jüdischen Geschichte zur Überlieferung im Sinne einer geheimen, mystischen Tradition. Das Übersinnliche, wie etwa Engelserscheinungen, Wundererzählungen sowie Ideen über Sinn und Form von Buchstaben oder Zahlen, spielt dabei eine große Rolle.
Denn auch wenn sie wie Noam nach den Regeln der Thora leben, so verbinden sie oft bibelkorrektes Judentum mit östlicher Spiritualität und einem unkonventionellen Lebensstil: „Im derzeitigen globalen New-Age-Trend möchten die Menschen ihre Überzeugung praktisch erfahren. Sie wollen Vipassana, Chanting und Meditation.“ Diese Schnittfläche gefalle vielen Juden nicht. „Bei den Na Nachs kann man ohne schlechtes Gewissen Yoga machen, Gras rauchen, laut singen und trotzdem die jüdischen Wurzeln bewahren.“ Ob Marihuana mit einem jüdisch-religiösen Leben vereinbar ist, daran scheiden sich die Geister der Gläubigen bislang noch. Die Na Nachs bewegen sich, was das angeht, in einer Grauzone.
Heute Abend geht Noam mit befreundeten Na Nachs auf ein Konzert. Spirituelle Rock- und Folkmusik, sagt er. Open Stage. Auch er wird etwas spielen. Gitarre und Gesang, sein bester Freund spielt Percussions. Männer und Frauen werden außerdem gemeinsam sitzen. Kinder sind willkommen, Nichtjuden ebenso, sagt er und lacht. „Einfach alle, solange man klatscht.“
Fotos: Ziv Koren/Polaris/laif