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Lobbyistin der Straße

Erika Heine hat keine Wohnung, aber sehr wohl eine Stimme. Was die Hannoveranerin zu sagen hat, ist vielen unbequem

Erika Heine (Foto: Jakob Schnetz)

Erika Heine hat wieder ein Zuhause. Zumindest ein kleines. Vor drei Jahren verlor die Yogalehrerin ihre Wohnung. Mehr als ein Jahr lang lebte sie in einem Obdachlosenheim unter, wie sie es bezeichnet, „menschenunwürdigsten Bedingungen“; die nächsten beiden Jahre überall dort, wo sie einen Schlafplatz fand, nicht selten auf der Platte. In dieser Zeit hat sie schutzlos größte Hitze und größte Kälte ertragen müssen, wurde mit brennenden Kippen beworfen, „beklaut, beschimpft und gedemütigt“. 

Dann tauchten kurz vor Weihnachten die Macher von „Little Home“ in Hannover auf. Die 62-Jährige nahm eine schlaflose Nacht lang Abschied von der Platte und zog in ihr drei Quadratmeter kleines Zuhause ein, das der Verein an Obdachlose verschenkt. Ein Bett, Regal, Campingklo, eine Tür mit Vorhängeschloss. Ohne Strom, fließend Wasser oder eine Heizung. „Ein ganz schlechtes Projekt. Wir können mit Sozialarbeit aufhören, wenn wir ‚Hundehütten‘ hinstellen“, urteilte Norbert Herschel von der Diakonie Hannover. „Keine menschenwürdige Unterbringung nach Ordnungsgesetz“, befand die Stadtverwaltung. Erika Heine sagt: „Für mich ist diese Hütte aktuell ein Segen.“ 

In Hannover ist Erika längst eine kleine Berühmtheit

Der Fall Little Home zeigt, wie umstritten Projekte für wohnungslose Menschen sein können – und dass sich die Wahrnehmung der Betroffenen von denen der Verwaltung durchaus unterscheiden kann. Mitte Januar starb in Hannover mal wieder ein obdachloser Mann an Unterkühlung. Die Zeitungen berichteten routiniert vom „ersten Kältetoten“ des Jahres. Erika begleitete den Freund des Toten in seiner Trauer. Aus 50 Teelichtern formten sie den Namen des Verstorbenen.

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Hannover

Sitzt fest im Sattel: an Erikas Selbstbewusstsein müssen sich einige Lokalpolitiker, Sozialarbeiter und Helfer erst noch gewöhnen

In Hannover ist Erika längst eine kleine Berühmtheit. Sie sieht sich als eine Art inoffizielle Sprecherin der Straße. Als Finger in der Wunde von Politikern und Sozialverbänden. Sie besucht Wahlkampfstände, Sozialausschüsse, politische und kirchliche Veranstaltungen oder Diskussionsrunden, um der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, der diese nicht gerade gut aussehen lässt.

Dafür braucht sie nur davon zu berichten, wie es zugeht auf der Straße. Wie es zum Beispiel ist, mit einer Schizophrenen, einer Alkoholikerin und einer Drogenkranken ein Vierbettzimmer in einer Notunterkunft zu teilen. Wie wenig Schutz das Leben ohne Wohnung bietet, ganz besonders für Frauen. Und vor allem, wie wenig Vertrauen Obdachlose gegenüber den Vertretern der Obrigkeit haben: Politikern, Kirchenvertretern, Verantwortlichen aus der Stadtverwaltung, Sicherheitskräften, sogar Sozialarbeitern. 

„Man spricht über uns, aber nicht mit uns“ 

Erika will nicht nur Salz in die Wunden streuen, sondern auch die Veränderung vorantreiben. Sie fordert die Einrichtung einer „unabhängigen und sanktionsfreien Beschwerdestelle“ für Wohnungslose, noch wichtiger sei aber „Teilhabe und Mitbestimmung der Betroffenen“. Vor dem Einbruch der Kältewelle trafen sich Vertreter der Stadt, der Kirchen und der Sicherheitsorgane zu einem „Runden Tisch“, um zu besprechen, wie man nun beim Thema Obdachlosigkeit zu reagieren habe. Auf die Idee, Betroffene zu dieser Diskussionsrunde einzuladen, war niemand gekommen. „Man spricht über uns“, sagt Erika, „aber nicht mit uns.“ 

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Erika Heine

Lobbyistin auf der Straße, unterwegs zum nächsten Termin

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Erika Heine

Wer sich als Obdachlose nicht angemessen devot verhält, werde ausgegrenzt und schikaniert, meint Erika Heine

Erika schiebt ihr Fahrrad mit den vielen Taschen durch die Innenstadt von Hannover. Sie ist auf dem Weg zu einem Vortrag, ein Professor wird zum Thema Armut dozieren. Als würde sie sich dafür warm reden, erzählt sie: „Wir sind diesem System und seiner Willkür vollkommen ausgeliefert: sittenwidrige Mietverträge eines gemeinnützigen Vereins, der willkürliche Leistungsentzug im Jobcenter, Verletzung des Datenschutzes etc.“ Wer seine eigene Meinung vertrete, wer bestimmte Maßnahmen infrage stelle, wer sich nicht angemessen devot verhalte, wer nicht funktioniere, wer Machtmissbrauch öffentlich mache, „wird ausgegrenzt und schikaniert“. 

Lokalpolitiker und Sozialarbeiter stöhnen genervt auf

Einen Gastauftritt bekommt Erika heute bei einem Vortrag des Mainzer Arztes und Sozialarbeiters Prof. Dr. Gerhard Trabert. Thema seines Vortrags: „Weil ich arm bin, muss ich früher sterben“. Trabert beurteilt das deutsche Sozialsystem als „Katastrophe“. Er sagt: „Nicht die Migration ist die Mutter aller Probleme, sondern die soziale Ungerechtigkeit.“ Als Erika von „struktureller Gewalt“ gegenüber Wohnungslosen spricht und die „würdelose Behandlung der Armen“ thematisiert, erhält sie dafür von anwesenden Betroffenen Beifall, während einige Lokalpolitiker und Sozialarbeiter genervt aufstöhnen. 

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Erika Heine

Sidekick aus dem Publikum: der Professor doziert über Armut und Gesundheit in Deutschland; Erika Heine kann davon aus erster Hand berichten

Zwei Stunden nachdem der Professor aus Mainz seinen Vortrag beendet hat, fährt am Raschplatz, gleich hinter dem Hannoveraner Hauptbahnhof, der Kältebus der Malteser vor. Wobei „Bus“ nicht ganz zutrifft. Es handelt sich um einen Bulli, aus dem die Mitarbeiter Bierbänke, Stehtische, zwei Kanister mit Suppe, Tee und Kaffee ausladen. Der Wind zieht eisig über die Betonplatten und kühlt Tee, Suppe, Helfer und Bedürftige gleichermaßen aus. Gleich neben dem Bus mit den frierenden Menschen liegt die menschenleere, aber hell erleuchtete und vermutlich angenehm warme Kantine der Sparkasse. 

Während Erika ihre Suppe löffelt, kommt sie ins Gespräch mit dem anwesenden Pressesprecher der Malteser und seinem Fotografen, der hier eigentlich nur ein paar dankbare Gesichter knipsen wollte. Jetzt muss er sich anhören, wie wenig sinnvoll so ein Kältebus ist, wenn er erstens keine Wärme gibt und zweitens bald wieder nach Hause fährt, um die frierenden Mitarbeiter in ihre warmen Stuben zu bringen. „Über Nacht, wenn die Menschen sterben, ist niemand für uns da“, sagt Erika. „In der Stadt gibt es doch genügend Notunterkünfte“, sagt der Fotograf. „Haben Sie schon mal in so einer Notunterkunft übernachtet?“, fragt Erika.

Der Mann zieht sich sichtlich irritiert zurück. Da schenkt man der Frau kostenlos Suppe aus, und dann meckert die auch noch rum. Sein Pressesprecherkollege hält tapfer aus. Erika ist in ihrem Element und doziert wortgewandt über die Missstände in dieser Stadt. Mit einer Betroffenen, die nicht einfach still ihren Tee trinkt und sich dann irgendwo einen Schlafplatz sucht, sondern stattdessen davon berichtet, was in diesem System alles falsch läuft – damit müssen Helfer erst mal klarkommen.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.