Es war natürlich ein Risiko. Einen Text zu nehmen, der nun wirklich nicht neu, der inhaltlich seit langem bekannt ist und obendrein als ziemlich kryptisch gilt. Was den Sportjournalisten und Medienberater Oliver Wurm aber vor allem abschreckte, war nicht der Inhalt, es war die Form. Schlechtes Papier, liebloses Layout, eng gedruckte Zeilen, diese Bleiwüste schrie nach einer neuen Gestaltung. 2011 gab er die „Heilige Schrift in moderner Schrift“ („Stern“) heraus.
Das Neue Testament als modern gestaltetes Magazin mit luftigem Layout war ein guter Witz, aber eben auch: ein gut lesbarer Witz. Für ihren Relaunch der Bibel gewannen Wurm und Gestalter Andreas Volleritsch zahlreiche Designpreise. Jetzt haben die beiden mit einem ähnlichen Projekt sogar einen Bestseller gelandet: mit dem Grundgesetz-Magazin.
Ein Banner in Chemnitz brachte das Magazinprojekt ins Rollen: „Die Würde des Menschen ist antastbar“
Dem Grundgesetz fliegen zum 70. Geburtstag gerade viele Herzen zu. Auch dort, wo man es nicht erwarten würde. Ein mittlerweile berühmtes DPA-Foto zeigt junge Leute mit einem Laken, auf dem „Grundgesetz ist geil“ steht. Dieses Laken wurde auf dem #wirsindmehr-Konzert am 3. September in Chemnitz hochgehalten, wo es kurz zuvor rechtsextreme Aufmärsche und Ausschreitungen gab. Zu dem Konzert ist auch Oliver Wurm aus Hamburg angereist. Er sah ein Banner gegenüber der Bühne, das ihn irritierte: „Die Würde des Menschen ist antastbar“ stand darauf. Ein Fehler mit Absicht, in Artikel 1 heißt es natürlich „unantastbar“.
Die Idee für eine Magazin-Fassung des Grundgesetzes hatte Wurm da schon länger im Kopf. Mit den Eindrücken aus Chemnitz machte er sich sofort an die Arbeit. So gibt es das Grundgesetz heute als App, als PDF, als Online-Version zum Durchklicken, in einer kostenlosen Druckfassung – und eben optisch modern aufbereitet als Magazin. Der Text ist ungekürzt, unverändert, ohne kommentierende oder erklärende Einschübe, nur manche Stellen werden grafisch hervorgehoben. Das Alleinstellungsmerkmal von Wurms Magazin: eine Leserführung, die tatsächlich zum Lesen einlädt. Große Sätze sind groß.
Etwa Artikel 5 (Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft): „Eine Zensur findet nicht statt“ ist in einem ganzseitigen roten Rahmen verankert. Artikel 3, der die Gleichheit vor dem Gesetz garantiert, arbeitet mit Hervorhebungen: Dass niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf, wird durch Versalien betont. Auf der anderen Seite wird Verwaltungstechnisches eher klein abgehandelt: Finanzwesen, Postwesen, da darf dann auch mal der Fließtext laufen ohne größere Akzente.
70 Jahre alte Texte und doch sofort vergriffen: 300.000 Stück wurden schon gedruckt
Auf manchen Seiten gibt es Satellitenfotos von Alexander Gerst, die er bei seiner Mission im Weltall aus der Raumstation „ISS“ geschossen und gepostet hat. Man sieht Deutschland von oben, eingebettet in Europa. Die Bilder lenken nicht ab, sie erweitern aber den Blick. Genau wie die Anlagen auf den letzten Seiten. Da gibt es noch die Nationalhymne samt Noten, Auszüge der Weimarer Verfassung (die dieses Jahr ihren 100. Geburtstag feiert) und die UN-Menschenrechtserklärung.
Mittlerweile steht das Grundgesetz im Bahnhofshandel. Es behauptet sich zwischen „Spiegel“ und „Auto, Motor und Sport“ erstaunlich gut: Die erste Auflage war schnell vergriffen, mittlerweile sind 300.000 Stück gedruckt. Davon träumen die meisten Magazine. Bei Amazon kletterte es zwischenzeitlich auf Platz eins der Verkaufscharts. Vielleicht das schönste Geschenk für das einst als Provisorium formulierte Grundgesetz zum 70. Geburtstag.
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