Jaime Huenchullán wirft sich die langen schwarzen Haare über die Schulter. Er ist 40 Jahre alt und lebt in der autonomen Gemeinde Temucuicui in Wallmapu, wie die Mapuche ihr Territorium im Süden Chiles nennen. Sie sind das größte indigene Volk des Landes und machen etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Viele von ihnen leben in traditionellen dörflichen Gemeinden, andere mussten vor Armut und Vertreibung in die Städte fliehen. „Die Erinnerung ist noch lebendig, dass hier unsere Urgroßeltern gelebt haben und vertrieben wurden. Deswegen kämpfen wir für die Rückgabe unseres Landes“, sagt Huenchullán.
Die Mapuche gelten als eines der kämpferischsten Völker Lateinamerikas. Kein anderes Volk konnte so lange seine Unabhängigkeit bewahren. Erst widersetzten sie sich erfolgreich der Invasion der Inkas, anschließend der Kolonisation durch die Spanier. Da die spanischen Eroberer die Mapuche nicht besiegen konnten, verhandelten sie mit ihnen und überließen ihnen im Jahr 1641 ein unabhängiges Territorium von etwa zehn Millionen Hektar. Aber mit der Unabhängigkeit Chiles 1810 kam es zu einer Wende. Denn der neu gegründete chilenische Staat weigerte sich, den Vertrag anzuerkennen. Chilenische Truppen marschierten in das Gebiet der Mapuche ein. Was als sogenannte Befriedung galt, war in Wirklichkeit eine brutale Militärintervention. Tausende Mapuche wurden getötet und vertrieben. Ihr Territorium wurde auf 500.000 Hektar reduziert. Große Teile des ehemaligen Mapuche-Gebiets übergab der chilenische Staat daraufhin an europäische Siedler, vor allem aus Deutschland und der Schweiz. Ihre Nachfahren leben noch immer in der Region.
Bis heute ist das Verhältnis zwischen beiden Volksgruppen gespannt. Wenn es zwischen ihnen zu Zusammenstößen kommt, sprechen viele chilenische Politiker und Medien von „Mapuche-Terrorismus“. Bei Festnahmen beruft sich die Justiz meistens auf das Antiterrorgesetz. Es stammt noch aus der Pinochet-Diktatur und erlaubt, „Terroristen“, die sich gegen die Regierung wenden, auch ohne klare Beweislage und Gerichtsprozess im Gefängnis oder in Untersuchungshaft festzuhalten. Auf der Grundlage des Antiterrorgesetzes sind bereits mehrere Mapuche-Aktivisten verhaftet worden.
Häufig wird das Gesetz auch angewendet, um die wirtschaftlichen Interessen der Forstindustrie zu schützen. Jaime Huenchullán aus der Gemeinde Temucuicui war mehrfach im Gefängnis, weil er und seine Familie gemeinsam mit anderen Mapuche in den 1990er-Jahren ein Grundstück besetzten, das dem Forstunternehmen Mininco gehörte. Der Hintergrund: Während der Agrarreform des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende wurden zahlreiche Gebiete an die Mapuche zurückgegeben. Allerdings wurden ihnen diese während der Pinochet-Diktatur wieder weggenommen und an Forst- und Agrarunternehmen verkauft. Im Jahr 2003 gelang es der Gemeinde Temucuicui nach jahrzehntelangem Widerstand gegen das Forstunternehmen Mininco, 1.900 Hektar Land zurückzugewinnen. Aber nicht ohne Folgen. „Die Unterdrückung hat nicht aufgehört. Die Antwort des Staates auf unsere Forderungen ist die Militarisierung der Region. Seit 2012 haben wir einen Militärstützpunkt gleich nebenan“, sagt Huenchullán.
Erst vor wenigen Monaten wurde ein Spezialkommando der chilenischen Polizei in der Araukanien-Region stationiert, das sogenannte „Dschungelkommando“. Schon im November 2018 erschoss ein Polizist des Kommandos den 24-jährigen Mapuche Camilo Catrillanca in der Gemeinde Temucuicui. „Sein Tod hat dazu geführt, dass wir uns als Mapuche stärker vereinen, um uns gegen den Krieg zu verteidigen, den der chilenische Staat gegen uns führt“, sagt Huenchullán.
In der chilenischen Verfassung, die noch aus den Zeiten der Militärdiktatur stammt, werden die Mapuche nicht als Volk anerkannt. Auch nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 haben die chilenischen Regierungen die Rechte der Mapuche systematisch missachtet. Seit der neoliberalen Öffnung Chiles drängen vermehrt ausländische Investoren ins Land, insbesondere in das von den Mapuche beanspruchte Territorium, das reich an natürlichen Ressourcen ist.
„Erst wurden die Mapuche durch die Siedler verdrängt, dann durch die Forstwirtschaft und heute durch Energieprojekte wie Windparks“
Besonders stark wachsen die Investitionen im Energiesektor. Chile gilt als Paradies für erneuerbare Energien aufgrund der reichen Wasserressourcen, großen Höhenunterschiede und vielen Sonnenstunden – hervorragende Voraussetzungen für Solaranlagen, Wind- und Wasserkraftwerke. Doch häufig sorgen die Energieprojekte für Konflikte mit den Mapuche. Das österreichische Unternehmen RP Global baute ein Wasserkraftwerk in Tranguil in der Gemeinde Panguipulli gegen den Widerstand der Mapuche. Die Aktivistin Macarena Valdés, die sich gegen den Bau des Wasserkraftwerks einsetzte, wurde am 22. August 2016 erhängt in ihrer Küche gefunden. Es sah zunächst nach Selbstmord aus, aber eine zweite Autopsie ergab, dass die junge Frau bereits tot war, als sie aufgehängt wurde. Ihr Ehemann Rubén Collío sucht bis heute nach Gerechtigkeit: „Macarena wurde ermordet, weil sie unser Territorium und unser Wasser verteidigt hat. Wir werden nicht aufgeben, bis wir die Verantwortlichen gefunden haben.“ Das Wasserkraftwerk wurde trotzdem gebaut, die chilenische Justiz legte den Fall zu den Akten.
In der Mapuche-Gemeinde Collipulli entsteht gerade Chiles größter Windpark – ein Projekt des deutschen Unternehmens wpd. Ein Mapuche, der wenige Kilometer von dem Windpark entfernt lebt und anonym bleiben will, meint: „Hier werden Abkommen geschlossen, ohne die Meinung der Bevölkerung zu berücksichtigen. Mit diesem Projekt wird das Unternehmen Millionen verdienen. Wir wollen nicht weiter in Armut leben. Wir wollen am Gewinn beteiligt werden.“ 400 Millionen US-Dollar investiert wpd in den Bau. Dem Unternehmen zufolge wird der Windpark der Gemeinde Wohlstand und Fortschritt bringen. Aber garantiert werden lediglich 65 feste Arbeitsplätze während der Bauzeit von etwa 98 Tagen. Die Pachtverträge wurden mit wohlhabenden Agrarunternehmern geschlossen. Die lokale Bevölkerung wird dagegen keine Vorteile haben – und auch die erzeugte Energie ist nicht für sie. Denn die meiste Energie wird in Chile durch den Bergbau, die Forstindustrie und die industrielle Landwirtschaft verbraucht – Wirtschaftssektoren, die auf den Export ausgerichtet sind, vor allem in die USA, nach China und nach Europa.
Der Historiker Martín Correa glaubt, dass der chilenische Staat mit seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik dafür gesorgt hat, dass sich der Konflikt zunehmend radikalisiert. „Erst wurden die Mapuche durch die Siedler verdrängt, dann durch die Forstwirtschaft und heute durch Energieprojekte wie Wasserkraftwerke und Windparks“, sagt Correa. Und all das geschehe unter dem Deckmantel von Chiles wirtschaftlicher Entwicklung, die den Mapuche nie Vorteile gebracht habe, deren Kosten sie aber tragen müssten. „Aber der Kampf der Mapuche“, so Correa, „ist noch lange nicht beendet.“