„Die Polizei hat sich zurückgezogen“, sagt ein junger Mann durchs Mikrofon. Er schaut in die Runde. Vor ihm auf der Straße sitzen Dutzende Menschen. Sie blockieren die Kreuzung am Potsdamer Platz in Berlin. Es ist Freitagnachmittag, der 20. September. Vormittags waren bundesweit Hunderttausende dem Aufruf von Fridays for Future gefolgt und hatten gegen den Klimawandel protestiert. Als viele schon wieder zu Hause sind, harren die Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung Extinction Rebellion (XR) auch an anderen Orten der Stadt weiter aus.
Mit Sitzblockaden die öffentliche Ordnung zu stören ist eine beliebte Protestform der rasch wachsenden Klimabewegung. Ab dem 7. Oktober wollen sie in Berlin und anderen Städten den „alltäglichen Betriebsablauf“ lahmlegen. Doch die Rebellion gegen das Aussterben soll eine friedliche sein; die Blockade wird so zunächst auch von der Polizei geduldet.
Extinction Rebellion ist ein neuer Akteur der Klimaschutzbewegung. Seitdem am 31. Oktober 2018 auf dem Londoner Parliament Square die Rebellion verkündet wurde, wächst die Bewegung weltweit schnell. In Deutschland gibt es derzeit über 50 Regionalgruppen, Dutzende weitere befinden sich im Aufbau. Im April blockierten Aktivistinnen und Aktivisten die Oberbaumbrücke in Berlin, im Juli die Deutzer Brücke in Köln, im September kippten sie literweise Kunstblut die Hamburger Elbpromenade hinunter.
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Ihre drastischen Aktionen spalten die Gemüter: Während Befürworter der Meinung sind, dass gesellschaftlicher Wandel Radikalität braucht, monieren Kritiker, dass manche Aktionen und Blockaden gegen geltendes Recht verstoßen könnten. Außerdem wird Extinction Rebellion ein Abgrenzungsproblem vorgeworfen. Systematische Verbindungen zu linksextremen Organisationen können der Bewegung aber nicht nachgewiesen werden.
Maximale Aufmerksamkeit erzeugen gehört zur Strategie. „Wir sind bereit, persönliche Opfer zu bringen. Wir sind bereit, uns verhaften zu lassen und ins Gefängnis zu gehen“, heißt es auf ihrer Homepage; die hohe Zahl von Festnahmen schürt das Medieninteresse. Außerdem inszenieren die Anhänger der Protestbewegung Trauermärsche und sogenannte Die-ins, bei denen sie sich auf Kommando in der Öffentlichkeit wie tot auf den Boden legen. Bei Demonstrationen treten manche als Red Rebel Brigade auf: Auch an diesem Freitag schieben sich die rot gekleideten Gestalten langsam durch die Reihen der Demonstrantinnen und Demonstranten. Die Farbe soll das Blut symbolisieren, das nicht nur durch den Menschen, sondern auch durch andere Spezies fließt und uns miteinander vereine.
Bereits vor Beginn des Klimastreiks steht Johannes Alber vor der französischen Botschaft und hält ein pinkfarbenes Fähnchen an einem langen Stock in die Höhe. Auf der Fahne ist ein Kreis mit einer Sanduhr. Das Logo der Bewegung. Johannes Alber kümmert sich an diesem Tag um die Presse. Ein Grüppchen Reporter der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, des RBB und des Deutschlandfunks trotten ihm und dem Fähnchen hinterher wie Touristen. Der 22-Jährige strahlt, er hat die Aufmerksamkeit der Presse.
Könnte eine Radikalisierung der Klimabewegung Sympathien kosten?
Dabei berichten nicht alle Journalistinnen und Journalisten nur Positives. Viele greifen auch schwierige Fragen auf, Fragen danach, ob eine Radikalisierung der Klimaproteste durch Extinction Rebellion droht – und was das für ihr gesellschaftliches Anliegen bedeutet. „Sind das friedliche Schüler, die sich nach ein, zwei Stunden wegtragen lassen? Oder lassen sie sich auf Formen der Aggression ein? Das Aufkommen radikalerer Gruppen wie ‚Extinction Rebellion‘ oder ‚Ende Gelände‘ jedenfalls kann zu einer Aufspaltung von Fridays for Future führen“, meint etwa Jugendforscher Klaus Hurrelmann vor wenigen Tagen in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“. „Wenn jetzt die Verhältnismäßigkeit der Mittel radikal überdehnt wird, schwindet die breite öffentliche Akzeptanz für die Klimaproteste.“
Extinction Rebellion erhebt drei Forderungen: Die Bundesregierung soll den Klimanotstand ausrufen und die Treibhausgas-Emissionen bis 2025 auf netto null senken. Also dafür sorgen, dass nur so viel CO2 ausgestoßen wird, wie durch Gegenmaßnahmen aus der Atmosphäre entfernt wird. Zudem sollen zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger in von der Regierung einberufenen Versammlungen darüber entscheiden, wie diese Ziele erreicht werden können. Zufällig, weil dadurch alle gesellschaftlichen Gruppen eingebunden würden. Unterstützt werden sollen sie dabei von Expertinnen und Experten.
Oder lässt sich nur mit radikalem Protest die nötige Aufmerksamkeit generieren?
Diese Offenheit führt dazu, dass es innerhalb der Bewegung unterschiedliche Ideen gibt, wie sie sich weiterentwickeln soll – und auch Konflikte. Als wichtiges und einendes Prinzip gilt aber die Gewaltfreiheit. Extinction Rebellion strengt sich an, das öffentliche Leben zu stören, will dabei jedoch friedlich bleiben. „Wenn wir eine Straße blockieren, gehen wir zwischen den wartenden Autos hindurch und reden mit den Menschen“, sagt Alber. „Wir versuchen zu erklären, warum wir das machen, und entschuldigen uns auch.“ Mit Beschuldigungen um sich werfen bringe jedenfalls nichts, sind diese Aktivistinnen und Aktivisten überzeugt, weil alle Teil des Problems seien und es entsprechend viele braucht, die an einer Lösung arbeiten.
Das findet auch Hans-Joachim. Seit wenigen Wochen ist der Rentner dabei. „Wir brauchen nur 3,5 Prozent“, sagt er. Um diese Zahl dreht sich bei Extinction Rebellion alles. 3,5 Prozent einer Bevölkerung müssen mobilisiert werden, um ein System zu verändern. Das zumindest ergibt eine Studie der Wissenschaftlerin Erica Chenoweth. Für Deutschland bedeutet das: 2,9 Millionen Menschen müssten mobilisiert werden.
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„Ich erinnere mich noch an die Demonstrationen 1989. Da hat auch niemand geglaubt, dass es eine Wiedervereinigung geben wird. Aber wir haben es geschafft“, sagt Hans-Joachim. Vor fünf Monaten wurde er Großvater. Für seine Enkelin will er zumindest versucht haben, das System zu ändern, das er für toxisch hält: Für die Anhänger der Extinction Rebellion ist die Klimakrise nämlich nur ein Symptom eines kaputten Systems. Am liebsten würden sie eine neue Gesellschaft schaffen. Eine, in der die Menschen achtsam miteinander umgehen.
Auf dem Potsdamer Platz ist es mittlerweile kalt geworden. Der Wind trägt riesige Seifenblasen über die Köpfe der Protestierenden hinweg. Sie sitzen um eine mobile solarstrombetriebene Anlage und diskutieren. Sagen darf jeder was. Da ist der Typ aus Israel, der die Menge in wirrem Denglisch motiviert, weiter auszuharren. „Because of the Umwelt, jaaaa!“
Dann tritt eine Frau ans Mikrofon. „Ich will mal etwas loswerden“, beginnt sie und erzählt von ihrer Schwangerschaft. Ich könnte die glücklichste Schwangere der Welt sein, wenn nicht die Klimapolitik wäre!“ Extinction Rebellion scheint für sie und die anderen hier auch eine Art Gruppentherapie zu sein. Ihnen macht der Klimawandel Angst – weil er dem Menschen und vielen anderen Spezies an die Substanz geht. Doch bei dieser Therapie wird nicht nur geredet, sondern auf die Straße gegangen. Und zwar möglichst radikal.