Wenn die 28-jährige Kulsum Akhter abends um acht nach zwölf Stunden Arbeit nach Hause geht, dann weiß sie, dass ihr Lohn wieder nicht reicht, um für sich und ihre Familie Essen zu kaufen. Für die unzähligen T-Shirts, Hemden oder Hosen, die sie jeden Monat näht, bekommt sie umgerechnet rund 60 Euro. Das reicht so eben für ein Zimmer in der Nähe der Fabrik und die Schulgebühren für ihre beiden Kinder. Damit es auch etwas zu essen gibt, zieht ihr Mann eine Rikscha durch Dhaka, die Hauptstadt von Bangladesch.
Auch wenn es kaum zum Leben reicht, lebensgefährlich ist Kulsum Akhters Arbeitsplatz inzwischen nicht mehr. Das war nicht immer so, hat sich nach der Katastrophe von Rana Plaza aber geändert: Am Morgen des 24. April 2013 stürzte in einem Vorort von Dhaka eine achtstöckige Fabrik ein, in der sich mehr als 5.000 Arbeiterinnen und Arbeiter befanden. 1.136 Menschen starben, über 2.000 wurden verletzt. Mit einem Schlag wurde deutlich, dass der Preis für die Billigmode in europäischen Geschäften nicht nur Minimallöhne am Existenzminimum sind, sondern dass auch katastrophale Arbeitsbedingungen dahinterstehen: keine Sicherheitsvorkehrungen, keine Notausgänge, kein Brandschutz.
Als Reaktion auf die Tragödie wurde Tausenden Familien, die vor dem Nichts standen, Geld aus einem insgesamt 30 Millionen US-Dollar hohen Entschädigungsfonds ausgezahlt. Zudem einigten sich einkaufende Modeunternehmen und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) darauf, in Kooperation mit staatlichen Behörden die Arbeitsbedingungen in den Nähfabriken regelmäßig zu überprüfen. Über 200 Modeunternehmen aus über 20 Ländern unterzeichneten ein Abkommen über Brandschutz und Gebäudesicherheit. Auch über Lohnerhöhungen wurde damals viel diskutiert – doch in diesem Bereich änderte sich für die meisten Näherinnen nichts. Tatsächlich sind die Löhne in den vergangenen Jahren kaum gestiegen, selbst die bestbezahlten Näherinnen bekommen nur knapp 80 Euro im Monat – genauso wie vor sieben Jahren. Und es lässt sich kaum kontrollieren, ob dieser Mindestlohn überhaupt eingehalten wird:Oft bekommen die Näherinnen ihr Gehalt bar ausgezahlt und haben weder Einblick in ihre Verträge noch in die Abrechnungen.
In Bangladesch gingen Tausende Näherinnen auf die Straße, um für ihre Löhne zu kämpfen
Durch das Coronavirus hat sich die wirtschaftliche Situation der Näherinnen noch weiter verschlechtert. Große Modehäuser mussten ihre Filialen vorübergehend schließen, die Nachfrage brach ein. Als Folge wurden in Bangladesch nach Angaben des Verbands der Bekleidungshersteller und -exporteure Bangladeschs (BGMEA) Aufträge im Wert von 3,18 Milliarden US-Dollar von Modefirmen storniert oder ausgesetzt, fast ein Zehntel des jährlichen Textilexports. „Etwa die Hälfte der Jobs im Textilsektor ist in Gefahr“, sagt Rubana Huq, Präsidentin des BGMEA.
Als die Regierung Ende März eine landesweite Ausgangssperre verhängte – offiziell als „landesweiter Urlaub“ bezeichnet –, konnte auch Kulsum Akhter nicht mehr zur Arbeit gehen. Stattdessen saß sie in ihrem Zimmer und vertröstete den Vermieter, der ständig nach Geld fragte. Zwar hatte die Premierministerin von Bangladesch, Sheikh Hasina, millionenschwere Hilfen zur Unterstützung der Textilindustrie versprochen, doch die Auszahlung verläuft nach wie vor schleppend, und viele Familien blieben ohne Geld. Also gingen Tausende Näherinnen in Bangladesch auf die Straßen, um gegen die Zustände zu protestieren. Die einen forderten Löhne auch für die Zeit des Lockdowns und protestierten für die Wiedereröffnung ihrer Fabrik, wieder andere dafür, dass ihre Fabrik geschlossen blieb – aus Angst vor dem Virus.
Während die Näherinnen in Bangladesch auf die Straße gehen, regt sich auch in den Ländern Widerstand, in denen die billige Mode in den Läden hängt. Max Gilgenmann berät Modeunternehmen, die auf Nachhaltigkeit und Fairness umstellen wollen, indem sie zum Beispiel Biorohstoffe verwenden. Er ist einer der Organisatoren der Nachhaltigkeitsmesse Neonyt. Im April baute er mit seinen Freunden von der Protestbewegung „Fashion Revolution“ einen Onlineshop für die virtuelle Marke „Crisis Fashion“. Für 50 Cent werden dort T-Shirts angeboten, doch sobald jemand ein Shirt anklickt, löst sich die Seite auf, und ein Text erscheint, der über das Unrecht in der Modeindustrie aufklärt. Im Anschluss können Besucher der Website an ihre Lieblingsmarke eine Protestmail schreiben oder Geld an einen Fonds für die Arbeiterinnen spenden.
„T-Shirts gibt es heute günstiger als eine Busfahrt. Und dafür haben die Näherinnen in Asien geschuftet“, sagt Gisela Burckhardt, die das sogenannte Textilbündnis berät, eine Initiative des Entwicklungsministeriums, bei der viele große Modekonzerne mit Vertretern der Zivilgesellschaft an einem Tisch sitzen, um bessere Standards entlang der Lieferkette festzulegen. Einzelne Unternehmen wie etwa C & A haben manches davon bereits umgesetzt.
Vor 13 Jahren gründete Burckhardt, die jahrelang im Ausland in der Entwicklungszusammenarbeit tätig war, mit Kolleginnen die Organisation Femnet. Femnet geht auch an Hochschulen mit Modestudiengängen, um zukünftige Modeeinkäufer und Designer für Sozial- und Umweltstandards zu sensibilisieren, denn viele Modestudierende würden ihre Zukunft nicht im Fast-Fashion-Produktionssystem sehen, sagt sie. Auch Gisela Burckhardt fordert ein Umdenken bei Konsumenten und Modefirmen.
„Unternehmen, die Schäden an Menschen in Kauf nehmen, müssen haften“
„Besser, wir produzieren hochwertig und langlebig und setzen auf neutrale Kleidung statt auf aktuelle Mode“, sagt Burckhardt, die ein Lieferkettengesetz unterstützt, das im Juli dieses Jahres in Deutschland diskutiert wurde und das von NGOs und Gewerkschaften gefordert wird. „Unternehmen, die Schäden an Mensch und Umwelt in ihren Lieferketten verursachen oder in Kauf nehmen, müssen dafür haften. Skrupellose Geschäftspraktiken dürfen sich nicht länger lohnen“, heißt es in dem Aufruf. Und Gisela Burckhardt schiebt gleich hinterher, dass es sehr darauf ankommt, wie das Lieferkettengesetz im Detail ausgestaltet wird. „Es ist wichtig, dass Betroffene nach deutschem Recht und vor einem deutschen Gericht gegen Menschenrechtsverletzungen vorgehen können.“ Tatsächlich plant die Bundesregierung ein Lieferkettengesetz, durch das deutsche Unternehmen die Veranwortung für Menschenrechtsverletzungen ihrer Lieferanten übernehmen.
Human Rights Watch kommt zu dem Schluss, dass die Käufer die Zulieferer immer noch finanziell dermaßen unter Druck setzen, dass Letztere „große Anreize verspüren, ihre Kosten durch Ausbeutung zu verringern“. Nun drohen einige Lieferanten erstmals damit, einzelne Modehäuser auf eine schwarze Liste zu setzen oder sie zu verklagen. Der Großteil der Fabriken wird aber wohl weiter zu Niedrigstpreisen liefern. „Viele Lieferanten werden sich nicht gegen die Käufer wehren, weil sie deren Bestellungen zum Überleben brauchen“, sagt Christie Miedema von der Clean Clothes Campaign. Große Kunden könnten ihre Produktion in andere Länder verlegen, sollten die Lieferanten zu viel Kritik üben.
Nach Wochen, in denen ihre Familie nur Linsen mit Puffreis-Crackern gegessen hat, erfährt Kulsum Akhter, dass sie Anfang Mai wieder in die Fabrik darf. Mitte Mai bekommt sie die langersehnten 60 Prozent ihres April-Lohnes: Das Geld stammt aus staatlichen Krediten, welche die Fabriken mit zwei Prozent Zinsen zurückzahlen müssen. Jetzt muss sie entscheiden, ob sie mit dem Geld zuerst den Vermieter bezahlt oder einkaufen geht.
Mitarbeit: Dil Afrose Jahan, Sylke Gruhnwald und Christian Zeier
Titelbild: Pacific Press/Light Rocket via Getty Images