Ich spaziere durch Innsbruck, meine österreichische Geburtsstadt im Herzen der Tiroler Alpen. „Fescher Mann, aber woher das Geld“, murmelt eine ältere Dame vor sich hin. Ein Mann starrt mich verächtlich an. Ich gehe weiter. Dass ich aufgrund meines Äußeren Diskriminierung erlebe, ist nichts Neues. Ich bin fast einen Meter neunzig groß, schwarzhaarig und vollbärtig. Kein ganz klassischer Österreicher. Für viele Menschen steht praktisch auf meiner Stirn geschrieben, dass ich einen muslimischen Hintergrund haben muss, und daraus ziehen sie ihre Schlüsse. So weit, so alltagsrassistisch. Mein Bart, meine Haare sowie Haut- und Augenfarbe bleiben stets gleich. Was sich aber ändert, ist meine Kleidung – und die stellt mich als muslimisch gelesenen Mann immer wieder vor Probleme.
Ich achte auf meinen Kleidungsstil. Gerne trage ich einen Mantel, meinen Lieblingspullover, elegante Stiefel und irgendeine Jeans. Ob Markenklamotten oder No-Name-Brands ist mir dabei meistens egal. Es muss passen, halten und gut aussehen. Doch einige Menschen sehen in meiner Kleidung mehr, als mir lieb ist. Ein gut angezogener, muslimisch gelesener Mann ist für Teile der weißen Mehrheitsgesellschaft ein Affront oder zumindest eine Irritation. Das ist nicht nur im erzkonservativen Innsbruck der Fall, sondern auch in Berlin oder Stuttgart, wo ich zurzeit lebe. Im Grunde genommen ist es ähnlich wie mit einem schicken Sportwagen. „Wie kann sich der denn so etwas leisten? Der ist doch gerade erst aus Syrien oder Afghanistan in unser Land gekommen“, sagen manche über mich.
„Formell und schick? Da kann etwas nicht stimmen. In Turnschuhen und Jogginghose? Muslimische Sozialschmarotzer!“
Nicht nur mir, sondern auch vielen Geflüchteten, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland oder Österreich gekommen sind, ist ihr Erscheinungsbild wichtig. Sie wollen gut und gepflegt aussehen und das auch zeigen: einerseits den Menschen in der neuen Heimat, von denen sie ohnehin oft kritisch beäugt werden; andererseits den Verwandten im fernen Ausland. Immerhin hat es nicht jeder nach Europa geschafft.
Wenn Menschen andere Menschen „muslimisch“ lesen, ist damit gemeint, dass sie von Aussehen oder sonstigen äußeren Merkmalen (z.B. Kleidung) auf eine ethnische oder religiöse Zugehörigkeit schließen – egal ob das stimmt oder nicht.
Doch egal, was man als muslimisch gelesener Mann anzieht, ständig wird man abgestempelt. Formell und schick? Da kann etwas nicht stimmen. Locker, leger und in Jogginghose? Arbeitsloser Sozialschmarotzer! In Deutschland berichten rund die Hälfte der Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund von Diskriminierungen. Das ergab eine Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2018. Besonders betroffen sind demnach Musliminnen und Türkinnen. Kein Wunder: Zur erwähnten Sichtbarkeit gehört eben auch die Kleidung, in ihrem Fall: das Kopftuch.
Zugegeben, es passiert nicht oft, aber manchmal lege ich mir meine afghanische Tracht, den Peran Tumban (wortwörtlich übersetzt: Kleid und Pluderhose), an. Während ethnic clothes in Metropolen wie London oder New York zum Alltag gehören und Sikhs und Muslime sogar ihre religiösen Kopfbedeckungen während des Polizeidienstes tragen dürfen, sind derartige Szenen in Deutschland eine Ausnahme und teilweise sogar gesetzlich verboten. Ich trage Peran Tumban nur zu besonderen Anlässen, zu religiösen Feiertagen, Hochzeiten oder Volksfesten. Meist trägt man dazu eine Weste und Sandalen. Wer es auf die Spitze treiben will, setzt sich noch einen Pakol-Hut oder einen Turban auf.
In Kabul käme der Peran Tumban auch nicht besser an
Natürlich gibt es viele Menschen, die solch eine Kleidung schön finden. Allerdings nur in einem gewissen Maße: Wer es mit Pluderhose und Turban übertreibt, gilt als nicht integriert. Das oftmals weiße Gegenüber hat sich schon längst sein eigenes Bild gemacht, bevor man überhaupt den Mund aufmacht: Parallelgesellschaft, religiöser Extremismus, Taliban. Es gab Situationen, in denen ich mit meinem Peran Tumban Supermärkte und Tankstellen betrat und nicht nur skeptisch, sondern auch feindselig angestarrt wurde – bis ich den Mund aufmachte und man mein akzentfreies Deutsch hören konnte. Abgesehen vom Äußeren ist die Sprache ein wichtiger Aspekt, der zu Diskriminierung und rassistischem Verhalten führen kann. Wer akzentfrei spricht oder gar einen lokalen Dialekt wie ich, hat meist weniger zu befürchten als jene, die das nicht tun.
Ironischerweise könnte ich auch in Kabul den Peran Tumban nicht tragen, ohne anzuecken. Dort hat es Tradition, dass sich urbane Eliten durch ihre Kleidung vom „einfachen Volk“ abgrenzen. In den 1970er-Jahren trug mein Vater in Kabul ausschließlich westliche Kleidung. Auch heute noch versuchen viele junge Afghanen, sich durch westliche Mode „aufzuwerten“. In vielen postkolonialen Staaten ist das so. Die Wurzel des Ganzen sitzt tief: In den 1920er-Jahren versuchte der afghanische König Amanullah Khan das Land zu modernisieren, indem er der Bevölkerung nach seinen Reisen in Europa unter anderem westliche Kleidung aufzwang. Wer Peran Tumban trug, galt als rückständig. Bei politischen Versammlungen mussten alle Teilnehmer ihre afghanische Tracht ablegen. Stattdessen ordnete der König Anzug und Krawatte an. Das Ganze nahm kein gutes Ende für Amanullah Khan. Er wurde gestürzt und verjagt.
Was der König nicht verstanden hatte und viele bis heute nicht einsehen wollen: Progressivität hat wenig bis gar nichts mit dem Kleidungsstil von Menschen zu tun. Afghanische Trachten bedeuten nicht automatisch, dass ihr Träger rückständig ist. Genauso wenig stehen westliche Modeerscheinungen für die einzig wahre, moderne und aufgeklärte Erleuchtung. Doch solange derartige Konstrukte in den Köpfen vieler Menschen bestehen bleiben, werde ich wohl weiter vor meinem Kleiderschrank verzweifeln.