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Zieht euch warm an

… denn immer mehr Kinder und Jugendliche landen in Deutschland auf der Straße. Wir haben ehemalige Straßenjugendliche gefragt, warum

Momos, Essen

Menschen, die vor Geschäften betteln oder in Hauseingängen schlafen, gehören für viele zum Stadtbild. Die Obdachlosen selbst bleiben oft unsichtbar – besonders Kinder und Jugendliche. In Deutschland leben etwa 37.000 Straßenjugendliche, schätzt das Deutsche Jugendinstitut. (Warum verrät unser Interview mit einem, der täglich mit Straßenjugendlichen zu tun hat.) Ein Großteil sei zwischen 18 und 20, etwa 7.000 seien sogar noch minderjährig. Manche schaffen es zurück in ein geregeltes Leben – und engagieren sich für andere. Zum Beispiel im Essener Projekt „MOMO – The voice of disconnected youth“, bei dem wir mit fünf Momos über den Alltag auf der Straße gesprochen haben.

„Heute male ich mir ein richtiges Spießerleben aus“

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Florian, Momos, Essen

Florian (22)

Einen Alltag hat man auch auf der Straße: Wenn morgens um neun Uhr die Notschlafstelle dichtmacht, heißt es erst mal: Kohle organisieren. Also schnorren, klauen, Drogengeschäfte. Dann selbst trinken und rumlatschen, bis zwölf Stunden rum sind und die Notfallstelle wieder aufmacht. Ich bin damals so viel herumgelaufen, dass ich heute Arthrose im Knie habe.

Manchmal habe ich mich in Parkhäuser oder Einkaufszentren gesetzt, wenn ich nicht rausgeschmissen wurde. Die meisten sehen Schnorrer nicht mal an. Man fühlt sich wie der Arsch der Gesellschaft. Aber ich war damals auch ein anderer Mensch. Das erste Mal obdachlos geworden bin ich mit 13. Ab da bin ich auch nicht mehr zur Schule gegangen und habe bis heute keinen Schulabschluss. Meine Mutter war Alkoholikerin und hat mich schwer misshandelt. Mit neun war ich das erste Mal im Heim. Ich habe etliche Jugendhilfeprojekte und Wohngruppen mitgenommen, bin aber immer angeeckt. Als ich 13 war, bin ich dort abgehauen, durfte aber noch nicht in die Notschlafstelle. Da habe ich in Sparkassen geschlafen oder mit dem Zelt an der Ruhr. Als ich 14 wurde, bin ich dann in die Notschlafstelle in Essen gekommen, da war ich dann fast zwei Jahre. Irgendwann war ich wieder eine Weile auf der Straße.

Insgesamt dreieinhalb Jahre ging das so. Ich war wütend über meine Situation. Und habe die Wut mit Drogen bekämpft. Im Rausch habe ich andere so zusammengeschlagen, dass die ins Krankenhaus mussten. Das bereue ich heute. Irgendwann habe ich realisiert, dass ich nicht so weitermachen kann. Ich habe ich mich auf Entzug gesetzt und die Kurve bekommen. Mit 18 hatte ich dann meine erste Wohnung in Dortmund, jetzt wohne ich wieder in Essen. Inzwischen bin ich zufrieden, wenn ich abends mit dem Hund auf der Couch liege und einen Film schauen kann. Aktuell lebe ich noch von Hartz IV und beginne bald meinen Bundesfreiwilligendienst hier in Essen. Ich bin glücklich und male mir ein richtiges Spießerleben aus: hübsche Frau, Kinder, Auto, eine kleine Haushälfte mit Garten, geregeltes Einkommen. Am liebsten würde ich im sozialen Bereich oder als Handwerker arbeiten. Mit den Momos will ich anderen helfen, damit ihre Geschichte so ausgeht wie meine. Ich wäre heute nicht mehr hier, wenn ich damals nicht die Hilfe bekommen hätte.

„Straßenjugendliche werden immer jünger. Und es wird immer härter“

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Greeny, Momos, Essen
Greeny (25), Mitbegründer der Momos

Ich komme aus einem kaputten Elternhaus. Mit 14 bin ich das erste Mal auf der Straße gelandet. Ich habe anfangs noch mit dem Jugendamt und der Jugendhilfe kooperiert, aber mit denen bin ich irgendwann nicht mehr klargekommen. Ab meinem 18. Lebensjahr war ich dauerhaft obdachlos. Ich konnte zwar reihum bei Freunden schlafen, habe die Tage aber auf den Straßen verbracht. Und ich habe viele gesehen: in Essen, in Brandenburg, dann in Gera. Ich wollte Abstand von meinem Umfeld. Bis heute habe ich keinen Kontakt zu meiner leiblichen Familie.

Auf der Straße lernst du zu überleben. Ich habe gedealt. Mit Drogen kannte ich mich schon aus: Mein eigener Konsum hat früh angefangen, da habe ich noch bei meinen Eltern gewohnt. Auf der Straße wurden Drogen dann Alltag, um meinen Kopf auszuschalten und um mich zu finanzieren. Dreimal hatte ich beim Dealen richtig Angst um mein Leben. Aber da draußen gehört das dazu.

Heute versuche ich, so clean wie möglich zu leben, aber ganz ohne geht’s noch nicht. Ich wohne in Essen, kriege Hartz IV und arbeite nebenher; DJ, Musikveranstalter, Promoter, was eben kommt. An die Zeit auf der Straße denke ich oft zurück. Die war hart. Aber bei den Momos bekomme ich mit, dass es immer härter wird für Straßenkinder.

Sie werden immer jünger und es gibt nicht genügend Hilfsprogramme. Die Politik muss anerkennen, dass wir ein Problem jugendlicher Obdachlosigkeit in Deutschland haben. Das wird zu oft runtergespielt, weil es nicht ins Bild eines wohlhabenden Landes wie Deutschland passt. Mit den Momos wollen wir ein Warnzeichen setzen. So kann ich später sagen: Wenn schon nicht für meine, dann habe ich wenigstens etwas für die nächste Jugend gemacht.

Übrigens    Anders als der Begriff „obdachlos“ nahelegt, schlafen die meisten Betroffenen nicht auf der Straße (offene Obdachlosigkeit), sondern pendeln zwischen Notschlafstellen, Jugendhilfeeinrichtungen und Couches von Freunden. Straßenjugendliche (also Menschen unter 27) werden deshalb immer öfter „disconnected youth“ genannt: junge Menschen in verdeckter Obdachlosigkeit, die von staatlichen Hilfssystemen entkoppelt sind und deshalb auch in keiner Statistik auftauchen.

„Auf der Straße gibt’s schon Regeln. Die erste: Nicht alleine schlafen. Es gibt immer jemanden, der dich abfackeln will“

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Tanja, Momos, Essen

Tanja (21)

Mit 14 bin ich ins Heim gekommen. Mit 17, mein Vater war gerade gestorben, habe ich beschlossen, nie dorthin zurückzugehen. Das Jugendamt hat mich in eine Düsseldorfer Notschlafstelle gebracht, den „Knackpunkt“, direkt um die Ecke vom Straßenstrich. Bis heute frage ich mich, wie man ein 17-jähriges Mädchen dort absetzen kann. Ich habe mich nie prostituiert. Aber ich bin eine Frau, und als Frau bekommt man von Männern viel ausgegeben. Da hatte ich Glück.

Als ich dann im „Knackpunkt“ Hausverbot bekommen habe, hing ich viel am Düsseldorfer Hauptbahnhof rum. Ich habe getrunken und geschnorrt. Wie oft ich den Spruch „Geh doch nach Hause zu deinen Eltern“ gehört habe! Der hat wehgetan, weil ich mir immer dachte: „Wenn ich das könnte, säße ich nicht hier, inmitten einer Gruppe Junkies.“

Dabei haben die noch am besten auf mich aufgepasst, sich immer darum gekümmert, dass ich was zu essen und zu trinken hatte – und sich erst einen Schuss gesetzt, wenn ich versorgt war. Auf der Straße, das habe ich von ihnen gelernt, gibt’s schon ein paar Regeln. Die erste: Nicht alleine draußen schlafen, sondern in Gruppen. Es gibt immer Menschen, die dich abfackeln oder abstechen wollen.

Jetzt habe ich eine Wohnung in Essen und hole demnächst meinen Hauptschulabschluss nach. Ich will Erzieherin werden.

„Als Frau ist es auf der Straße noch mal gefährlicher“

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Jasmin, Momos, Essen

Jasmin (27)

Ich war schon immer viel draußen. Parks, Spielplätze und Jugendhäuser waren verlockender als eine Wohnung mit zwei alkoholkranken Eltern. Mit neun war ich ein halbes Jahr im Heim. Ich habe damals gesagt, dass ich nicht zurück in meine Familie möchte – und wurde trotzdem zurückgeschickt. Als ich mit 18 endlich mit meiner Freundin zusammenziehen konnte, war es plötzlich da: dieses Gefühl von Familie, das ich von zu Hause nicht kannte.

Nach zwei Jahren ging die Beziehung zu Ende, ich musste ausziehen. Meine Mutter wollte mich nicht wieder aufnehmen. Da bin ich mit meinem Rucksack und den immerhin 150 Euro losgezogen, die sie mir monatlich überwiesen hat. Das Geld war schnell weg: Ich habe bei Freunden gepennt, tagsüber waren wir unterwegs, im Park, Leute sehen, Drogen nehmen, mit der Bahn mal hierhin, mal dorthin. Oft hatte ich wirklich Angst: Wir sind einmal in eine Höhle rein, um Drogen zu kaufen, und andere Abhängige haben uns mit dem Messer vor der Kehle erpresst. Als Frau ist es auf der Straße noch mal gefährlicher, weil du einfach anfälliger für Übergriffe bist. Greeny war mein Glück: Er hat sich oft hinter mich gestellt. Das macht nicht jeder. Eigentlich heißt es auf der Straße: Fressen oder gefressen werden.

In dieser Zeit habe ich eine psychische Störung entwickelt, die mich im Alltag sehr behindert. Trotzdem habe ich im Herbst 2019 meine Ausbildung als Masseurin und medizinische Bademeisterin abgeschlossen. Seit drei Jahren lebe ich mit meiner Freundin zusammen. Ich finde, dass Schulen und Jugendämter nicht genug hinschauen. Es gibt so viele Kinder, die aus ihren Familien rausmüssten, aber nicht können. Es ist wichtig, dass man uns als Individuen wahrnimmt und nicht als eine Statistik. Dass man mit uns schaut, wie man die Situation verbessern kann, und nicht nach einem Schema abarbeitet. Das finde ich rückblickend am wichtigsten: Ich werde gehört. Ich habe eine Stimme.

„Freundschaften gibt es auf der Straße selten – es sind mehr Zweckgemeinschaften“

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Danny, Momos, Essen
Danny (23)

Ich wurde mit 19 obdachlos. Damals habe ich meine Ausbildung als Kinderpfleger verloren und meine Mutter hat mich rausgeschmissen. Ich bin bei Freunden untergekommen und mit meinem letzten Geld nach Essen gefahren. Nach ein paar Tagen habe ich von der Notfallstelle erfahren. Dort habe ich knapp vier Jahre lang meine Nächte verbracht. Zwölf Stunden durfte man am Stück bleiben, im Warmen, in Sicherheit, sogar etwas zu essen gab es.

Die Tage habe ich draußen irgendwie rumbekommen, nach ein paar Monaten auch mit Drogen. Außer Koks und Heroin hab ich wirklich alles genommen. Wenn die Notschlafstelle mal voll war, musste ich auf der Straße schlafen. Da kamen auch mal solche Sprüche wie: „Du kannst bei mir pennen, wenn wir miteinander schlafen.“ Aber auf solche Angebote bin ich nicht eingegangen.

Ich bin sehr introvertiert. Deshalb habe ich oft ganze Tage allein verbracht. Richtige Freundschaften gibt es auf der Straße selten – es sind mehr Zweckgemeinschaften. So richtig aufwärts ging es über drei Jahre nicht. Ich habe versucht, in Essen eine Wohnung zu finden. Aber es gab immer nur Absagen. Finanziert habe ich mich hauptsächlich über Hartz IV und Klauen.

Zum Glück fand ich in der Familie eines guten Freundes eine zweite Familie. Seit einem Jahr habe ich eine Wohnung in Oberhausen und jobbe auf 450-Euro-Basis in einem Supermarkt. Dieses Jahr möchte ich meine Ausbildung als Kinderpfleger wiederaufnehmen. Mit meiner Mutter habe ich seit kurzem auch Kontakt. Aber meine Energie stecke ich jetzt erst mal in mich, meine Wohnung, meine Arbeit. Ich gebe alles dafür, nicht wieder dort zu landen, wo ich herkomme.

Bei „MOMO“ setzen sich seit 2014 ehemalige für aktuelle Straßenjugendliche ein. Sie bieten gemeinsam mit Sozialarbeiter*innen eine erste Anlaufstelle und machen politisch Druck, um die Situation für junge Menschen ohne festen Wohnsitz zu verbessern. Momos gibt es in Essen, Hamburg und Berlin.

Daneben engagiert sich auch die Initiative „Off Road Kids“, die einzige überregionale Hilfsorganisation für Straßenjugendliche in Deutschland. Sie unterhält Streetwork-Stationen in fünf Städten und die digitale Beratungsstelle sofahopper.de. Dort können Kinder und Jugendliche per Chat Hilfe suchen. Als Sofahopper bezeichnet man in diesem Kontext Jugendliche in verdeckter Obdachlosigkeit, die von Couch zu Couch pendeln.

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