Agung Alit neben der Büste seines Vaters

Verbotenes Andenken

Auf der Touristeninsel Bali wurden 1965 bei antikommunistischen Massakern Zigtausende getötet. Offiziell anerkannt wird das in Indonesien nicht. Die Gruppe Taman65 erinnert an das Verbrechen und kämpft gegen das Vergessen

Text: Nikita Vaillant und Fotos: Fauzy Chaniago
Thema: Identität
16. April 2025

Eine viel befahrene Straße in Denpasar, der Hauptstadt der Insel Bali. Hinter traditionell balinesischem Gemäuer verbirgt sich ein Innenhof, dessen Zentrum die weiße Büste eines Mannes bildet. „Viele Verwandte haben sich beschwert, als ich die aufgestellt habe“, sagt Agung Alit. Und das, obwohl sie seinen eigenen Vater, I Gusti Made Raka, darstellt. Ein Lehrer und Intellektueller, der gerne Radio hörte und Bücher sammelte. „Warum die alte Wunde öffnen?“, hätten die Verwandten gefragt.

Genau hier stand das Haus von I Gusti Made Raka – bis es eine Meute im Dezember 1965 niederbrannte. Kurze Zeit später verschwand auch er für immer. Damals griffen das indonesische Militär und Milizen Mitglieder der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI) an.

Raka ist Opfer einer der schlimmsten Massenmorde des 20. Jahrhunderts, bei dem in Indonesien zwischen 500.000 und zwei Millionen Menschen ums Leben kamen. Weitere ca. 1,4 Millionen (nach anderen Schätzungen jedoch nur 600.000 bis 750.000) kamen hinter Gitter, und eine ganze Generation von Studierenden, die im Ausland waren, durfte nie wieder nach Indonesien zurückkehren. Allein auf Bali wurden damals 80.000 Menschen umgebracht, etwa vier Prozent der dortigen Bevölkerung. Auch Gewerkschaften und feministische Gruppen gerieten ins Visier. 

Fluss unweit des Hauses in Denpasar, Indonesien

Unweit des Taman65 in Denpasar fließt ein Fluss. Dorthin, erzählt Agung Alit, wurde damals die Leiche seines Vaters gebracht

Frau Ketut Ni Rumasning vor ihrem Marktstand

Ein Markt in Agung Alits Nachbarschaft: Hier befand sich einst ein Massengrab. Ketut Ni Rumsaning (46) erinnert sich an die Knochen, die zum Vorschein kamen, als der Markt gebaut wurde. Eine Gedenktafeln gibt es hier trotzdem nicht

Die indonesische Regierung erkennt das Massaker bis heute nicht an, und für die meisten Menschen ist das Thema tabu. Agung Alit hat deshalb den einzigen Ort im ganzen Land gegründet, der der Opfer von damals erinnert: den Community-Space Taman65. Der Name setzt sich zusammen aus dem indonesischen Wort für Park und der Jahreszahl 1965 – dem Jahr, in dem die Gewalt ihren Lauf nahm.

Jene, die Interesse haben, werden hier von Agung Alit und seiner Familie empfangen, und gelegentlich gibt es Bildungsveranstaltungen, die sich insbesondere an junge IndonesierInnen richten. Abgesehen von ein paar wenigen Spenden finanzieren Agung Alit und seine Freunde das Projekt aus eigener Tasche. Bei Kaffee kommt man auf Plastikstühlen zusammen und plaudert unkompliziert drauflos, ganz nach indonesischer Art. 

„Ich weiß bis heute nicht, ob mein Vater wirklich in der PKI war. Aber das ist mir egal. Heute sage ich: ,Ja, ich bin das Kind eines Kommunisten‘, ob es den Leuten gefällt oder nicht“, sagt Agung Alit. Solch klare Worte hört man in Indonesien so gut wie nie. Genau aus diesem Grund hat er den Taman65 gegründet: um für dieses lange überfällige und jahrzehntelang unterdrückte Thema einen Raum zu schaffen.

Taman65 Hof

Indonesische Intellektuelle und Kulturschaffende, aber auch interessierte TouristInnen besuchen den Taman65. Regelmäßig gibt es Veranstaltungen, die sich mit den Geschehnissen von 1965 auseinandersetzen

Am 1. Oktober 1965 werden sechs indonesische Generäle im Zuge eines Putschversuches ermordet. Unter der Leitung General Suhartos wird der Coup sofort niedergeschlagen und Präsident Sukarno entmachtet. Schnell wird die Schuld der PKI zugeschoben.

In der Folge startet das Militär eine beispiellose Kampagne gegen Kommunisten und eine Jagd auf alle, die sie dafür halten. Wellen der Gewalt erschüttern verschiedene Regionen des Landes. Bürger denunzieren und ermorden andere Bürger. Schließlich reißt Suharto die Regierungsgewalt an sich und regiert das Land 30 Jahre als Diktator. 

Noch heute wird der Tag des Putsches als Triumph über den Kommunismus gefeiert. Internationale ForscherInnen gehen jedoch davon aus, dass es sich bei dem vermeintlichen Putsch um einen militärinternen Konflikt gehandelt haben könnte, den Suharto geschickt ausnutzte. 

Bücherregale der Taman Baca Kesiman Bibliothek

Besonders Intellektuelle wurden damals verfolgt und getötet. Agung Alit und seine Brüder wollen, dass das intellektuelle Leben auf Bali wieder lebendiger wird ...

Zwei Menschen lesen in der  Taman Baca Kesima Bibliothek

...und haben deshalb eine kostenlose Bibliothek eröffnet, die sie aus eigener Tasche finanzieren. Der„Taman Baca“ ist in Indonesien, wo Bildung zunehmend privatisiert wird, ein rares Gut. Hier können junge Leute lesen, arbeiten und diskutieren

Was damals genau geschah, kann niemand mit Sicherheit sagen. Als erwiesen gilt aber: Die USA hatten Kenntnis von den Massakern an den Kommunisten und finanzierten diese mit, lieferten Ausrüstung und Namenslisten. Sie unterstützten Suharto mithilfe verdeckter Operationen aus Angst vor einer internationalen Ausbreitung des Kommunismus – ein Vorgehen, das später auch in anderen Ländern des globalen Südens wie Nicaragua und Chile genutzt wurde.

„Plötzlich liefen ganz in Schwarz gekleidete Mobs durch die Straßen, und wir fragten uns, wo sie die Uniformen herhatten“, erinnert sich Agung Alits Onkel. Er ist der Bruder von Raka und hat sich heute etwas abseits zur Runde gesellt. Damals war er Vizepräsident in der Jugendorganisation der PKI. „Meinen Vorgesetzten hatten sie schon umgebracht, also bangte ich jeden Abend, dass sie mich als Nächsten abholen. Seitdem kann ich keine Sonnenuntergänge mehr ertragen.“

Menschen genießen die Strandatmosphäre in Seminyak

Sonne, Sand und Palmen: Der Strand von Seminyak erfüllt alle Bilder, die TouristInnen von der Insel haben. Was die wenigsten von ihnen wissen: Auf diesem Strand stapelten sich damals die Leichen. Gerade weil die Kommunisten umgebracht wurden, konnte der Tourismus boomen, meint Agung Alit: Geplante Landreformen wurden nicht mehr durchgesetzt, stattdessen Grundstücke privatisiert und verkauft. Heute steht hier der Beachclub „KU DE TA“ – indonesisch für Staatsstreich. Reiner Zufall?

Vom Militär ausgebildete Kämpfer lynchten Menschen auf offener Straße und zerstörten ihre Häuser. Andere, wie Alits Vater Raka, wurden von der Polizei verhört und verschwanden dann für immer in der Nacht. Balis Strände verwandelten sich zu Massengräbern. 

Bis heute haftet ein hartnäckiges Stigma an der PKI und den Nachkommen ihrer Mitglieder. In der lokalen Behörde existieren Fotos von Agung Alits Familie, die als „unrein“ gebrandmarkt ist – die Eltern seiner ersten Freundin gaben ihm deshalb nicht ihren Segen, und seinem Neffen wurde das Studium an einer der größten staatlichen Unis verwehrt.

Seit es den Taman65 gibt, treten immer wieder Bekannte an sie heran, die davon berichten, ebenfalls Familienmitglieder verloren zu haben, erzählt Agung Alit. Oder Menschen, deren Verwandte selbst zu Tätern wurden und um Vergebung bitten. Das möchte er nicht, erzählt Agung Alit. „Auch die Täter waren bloß Opfer staatlicher Propaganda“, sagt er.

Statue von I Gusti Gede Raka B.A

Rakas Leichnam wurde nie gefunden. Für Balinesen ist das besonders schmerzhaft:  In ihrem Glauben wird dadurch das spirituelle Weiterleben der Verstorbenen gestört

Agung Alit spielt mit seinem Enkel in Taman65

Als Raka verschwindet, ist Agung Alit selbst noch ein Kind. Zusammen mit seinen Brüdern sucht er damals im Massengrab nach der Leiche seines Vaters – vergeblich. Zu viele Menschen waren dort begraben

Seine Freunde wollen nicht von der Geschichte reden, das sei schlecht fürs Business. Unter der Regierung von Suharto wurde Bali zum Aushängeschild des Landes, viele Einwohner sind abhängig von den Einnahmen durch ausländische TouristInnen und Langzeitgäste. „Hier geht es jetzt nur noch um die Dollars“, sagen Alit und seine Brüder. Deshalb haben sie eine Bibliothek gegründet, den Taman Baca („Lesepark“). Dort gibt es kritische Literatur, erschwinglichen Kaffee und einen Platz zum Arbeiten. Ein guter Einstiegsort, um jüngere IndonesierInnen mit dieser Geschichte vertraut zu machen. 

Mit dem aktuellen Präsidenten Prabowo hat Indonesien wieder einen Ex-Militär als Staatsoberhaupt, dessen Menschenrechtsbilanz alles andere als sauber ist. Ob der Taman65 unter der neuen Regierung eine Zukunft hat, ist ungewiss. Angst habe er keine, aber er mache sich auf alles gefasst, sagt Alit. Sie werden niemals aufgeben. „Ich möchte kein Mitleid, sondern nur, dass sich diese Geschichte nie wiederholt“, sagt er.

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