Als Jakob Hafele 2008 sein Studium der Volkswirtschaftslehre begann, hatte er große Hoffnungen. Schon als Schüler hatte er sich immer wieder die Frage gestellt, warum die Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern so riesig sind. Wenn er erst die Weltwirtschaft verstünde, so sein Gedanke, dann könnte er sich auch ernsthaft mit Lösungen beschäftigen. Hafele war also ziemlich motiviert, als er zu den ersten Vorlesungen an die Uni Heidelberg kam.

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cms-image-000045631.jpg (Foto: LUKE MACGREGOR/Reuters/Corbis)
(Foto: LUKE MACGREGOR/Reuters/Corbis)

Zweifellos schien Wirtschaft das spannendste Fach zu sein, das man zu diesen Zeiten studieren konnte. Schließlich erlebte die Finanzkrise ihren Höhepunkt, und Wirtschaftshistoriker sprachen davon, dass wir den schlimmsten globalen Wirtschaftseinbruch seit 1929 erlebten. Doch Hafele wurde schon in den ersten Tagen enttäuscht. „Die Finanzkrise war in meinem kompletten Studium vielleicht in einem Hundertstel der Zeit überhaupt Thema“, erzählt er. Und über die Ungleichheit auf der Welt hatte er auch nichts erfahren. Schon überlegte er, sein Studium wieder hinzuwerfen.

Als aber Hafele mit Kommilitonen über seinen Unmut sprach, stellte er fest, dass er nicht allein damit war. Und dass gerade in Heidelberg vieles passierte, um diesen Unmut zum Ausdruck zu bringen. Denn die idyllische Uni-Stadt ist in Deutschland zum Zentrum einer Bewegung geworden: Ökonomen wehren sich dagegen, dass Wirtschaft nur aus Mathematik besteht. Sie wollen, dass an Universitäten nicht mehr nur gepredigt wird, dass der Markt immer recht hat – wo doch die Finanzkrise gezeigt hat, dass der Markt (in seiner Form als Finanzmarkt) fatal versagen kann. Dem wollen sie beikommen, indem in der akademischen Volkswirtschaftslehre statt dem Schein mathematischer Objektivität künftig eine größere Vielfalt von Perspektiven und Methoden zum Tragen kommen soll – verstärkt auch durch die Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Denkschulen.

Inzwischen tobt der Streit heftig, und das nicht nur in der Fachwelt: Junge Studenten, Doktoranden und frischgebackene Ökonomen greifen die überwiegend älteren Professoren an. Und die wehren sich mit markigen Worten. Ende des Jahres verdammte Deutschlands wahrscheinlich bekanntester Ökonom, Bestseller-Autor und der Präsident des Ifo Instituts Hans-Werner Sinn die Kritiker in der „Süddeutschen Zeitung“ in Bausch und Bogen als Unwissende: „All jene, die die Ökonomie heute kritisieren, haben sie in Wahrheit nicht verstanden“, befand er. Die Zeitung aber gab Hafele und zwei Mitstreitern die Gelegenheit zum Konter. „Wenn Ökonomen dennoch wie Ärzte, nur eine einzige Art von Lösung als alternativlos verschreiben, wird ersichtlich, wie problematisch die Einseitigkeit der aktuellen Wirtschaftswissenschaft ist.“

Solche Streitigkeiten um Methoden und Dogmen sind nicht nur ein Problem für Wissenschaftler. Sie betreffen die ganze Gesellschaft. Denn Wirtschaftsprofessoren beraten Politiker, werden von Journalisten gefragt, wenn es kompliziert wird. Sie haben großen Einfluss darauf, welchen Weg die Gesellschaft einschlägt. Hilft der Mindestlohn? Soll die EZB weiter die Zinsen niedrig halten? Können CO₂-Steuern den Klimawandel stoppen? Führt die Einwanderungsbewegung nach Europa zu mehr oder zu weniger Wohlstand bei uns und in Afrika? Solche Fragen stellen Volksvertreter und Medien den Wirtschaftswissenschaftlern, bevor sie entscheiden. Hafele & Co. haben in ihrem Zeitungstext den amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Samuelson zitiert: „Es ist mir gleichgültig, wer die Gesetze eines Landes macht – solange ich ihre Wirtschaftslehrbücher schreiben kann.“

Im Ökonomenstreit geht es inhaltlich etwas anders zu als bei den Kontroversen anderer Fächer. In anderen wissenschaftlichen Disziplinen wird gern eine vermeintliche Irrlehre angeprangert, die durch eine andere vermeintlich richtigere Theorie ersetzt werden soll. Die Kritiker im Wirtschaftsdisput hingegen versuchen peinlichst das Bild zu vermeiden, dass sie einfach anstelle der herrschenden Lehre ein neues Dogma setzen wollen. Nein, sagen sie – und werfen der dominierenden Theorie nur vor, dass sie die Alleinherrschaft beanspruche. Sie hingegen kämpfen dafür, dass es an Universitäten und bei Fachkongressen eine größere Vielfalt der Lehrmeinungen gibt. Die Aktivisten haben sich daher den Namen „Netzwerk plurale Ökonomik“ gegeben.

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Man sollte in diesen turbulenten Zeiten nicht stur an alten Modellen festhalten, finden viele Studenten (Foto: LUKE MACGREGOR/Reuters/Corbis)

Man sollte in diesen turbulenten Zeiten nicht stur an alten Modellen festhalten, finden viele Studenten

(Foto: LUKE MACGREGOR/Reuters/Corbis)

Dieses Netzwerk hat inzwischen Gruppen an 24 Universitäten, die vor allem aus Studenten bestehen. Aber auch einige Professoren, die unzufrieden sind, sind dabei. Sie organisieren alternative Lehrveranstaltungen und Fachkongresse, und längst gibt es auch Fachpublikationen, in denen die zumeist jungen Wissenschaftler ihre Thesen publizieren. Während viele etablierte Professoren die Bewegung immer noch abblocken, gibt es auch einzelne, denen die Diskussionen zu denken gegeben haben. Dazu zählt Thomas Straubhaar, der lange als stramm neoliberal kritisierte Hamburger Professor und langjährige Chef des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts. „Wir müssen den Mythos von der Effizienz der Finanzmärkte zertrümmern“, stellte er nach der Finanzkrise fest. Die dominante Theorie, die die Kritiker angreifen, wird meist als Neoklassik bezeichnet. Ihre Anhänger glauben an die Idee der „unsichtbaren Hand“, nach der Märkte sich selbst regulieren können. Sie vertreten das Ideal des „Homo oeconomicus“, nach dem alle Akteure im Markt – ob Produzent oder Konsument – sich allein von rationalen Überlegungen leiten lassen. Wer VWL studiert, muss nach ihrer Ansicht vor allem Mathematik beherrschen. Manche Professoren sind sogar der Meinung, dass die Ökonomie nach ähnlich eindeutigen Regeln funktioniert wie die Physik. Es gibt Profs, die unterstellen den kritischen Studenten, diese wollten nur nicht so viel Mathe pauken.

Dagegen spricht, dass viele der Kritiker inzwischen ihr Studium an den etablierten Fakultäten beendet haben – auch Jakob Hafele. Die anderen Theorien, die die Kritiker neben der Neoklassik an die Unis bringen wollen, kommen oft von links oder aus der ökologischen und sozialwissenschaftlichen Ecke: Marxisten, Keynesianerfeministische Ökonomik heißen die Schulen etwa. Ökologische Ökonomen etwa kritisieren, dass in der (neo-)klassischen Wirtschaftswissenschaft die Vernichtung natürlicher Ressourcen nicht als Kostenfaktor auftauche. Sie verlangen gleichzeitig, die natürlichen Grenzen des Wachstums einzubeziehen, wenn man menschliches Wirtschaften betrachtet. Andere Ökonomen wiederum betonen den sozialwissenschaftlichen Aspekt: Sie verweisen darauf, dass jede Untersuchung der Wirtschaft das Handeln von Menschen untersucht, und sie sich daher mehr mit dem sozialen Verhalten befassen müsse, als mit vermeintlichen quasi-naturwissenschaftlichen Gesetzen.

Gleichzeitig wehren sich die Kritiker aber gegen die Behauptung, sie wollten nur eine bestimmte politische Agenda durchsetzen – denn ebendas werfen sie ja der etablierten Wissenschaft vor. „Wir haben durchaus unterschiedliche politische Vorstellungen und versuchen, unsere Kritik auch immer von diesen zu trennen“, sagt Hafele. So fordert das Netzwerk auch, dass die sogenannte Österreichische Schule mehr gelehrt wird, die in manchen Ausprägungen noch liberaler argumentiert als Professoren wie Sinn.

Der Kampf für mehr Vielfalt mischt auch international inzwischen die Szene auf. Es begann schon vor 15 Jahren mit einem Studentenprotest in Frankreich, inzwischen haben sich in den USA zahlreiche Professoren einer alternativen Ökonomenvereinigung angeschlossen, deren Wissenschaftsjournal längst einiges Renommee genießt. Jakob Hafele ist mittlerweile mit Begeisterung Ökonom. Seit er sein Studium abgeschlossen hat, arbeitet der 26-Jährige für das Netzwerk – sein Ziel ist, dass künftige Studenten an der Uni mehr Antworten finden als er zu Beginn seines Studiums.

Lutz Meier ist freier Wirtschaftsreporter in Berlin. Früher hat er bei der Financial Times Deutschland die Medienberichterstattung verantwortet und die Zeitung als Korrespondent in Paris vertreten.