fluter.de: Ms. Solinger, die Dobbs-Entscheidung des US Supreme Court von 2022 hob das nationale Recht auf Abtreibung auf und übertrug den Bundesstaaten die Befugnis, eigene Abtreibungsgesetze zu erlassen. Wie kam es zu dieser Gesetzesänderung?
Rickie Solinger: Die Dobbs-Entscheidung war kein plötzlicher Wandel, sondern meiner Meinung nach das Ergebnis zweier in der US-amerikanischen Gesellschaft tief verwurzelter Weltanschauungen: Frauenfeindlichkeit und religiöser Fundamentalismus. Es wird zwar häufig damit argumentiert, dass die Bibel ein wörtliches Verbot von Abtreibungen vorgibt. Doch ich glaube, dahinter steckt oft etwas anderes. Viele Menschen in den USA sind offenbar der Ansicht, dass Frauen nicht die gleichen Rechte wie Männer haben sollten, insbesondere im Bereich der sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung. Der Widerstand gegen die Frauenrechtsbewegung war über die letzten 50 Jahre hinweg intensiv und unnachgiebig. Donald Trump nutzte seine erste Amtszeit, um drei Richter*innen in den Supreme Court zu berufen, die seine konservativen Ansichten teilen.
Die Ernennung von Neil Gorsuch 2017, Brett Kavanaugh 2018 und Amy Coney Barrett 2020 in den Supreme Court der USA ebneten also den Weg für das restriktive Abtreibungsgesetz?
Richtig. Damit schuf Trump langfristig eine konservative Mehrheit im obersten Gericht der Vereinigten Staaten, was seine politische Agenda auch über seine erste Amtszeit hinaus prägte. Das war in erster Linie ein Mittel zum Zweck. Ich glaube nicht, dass Trump tatsächlich einen ideologisch oder religiös fundierten Widerwillen gegen Abtreibungen hat. Er ist nur an Macht interessiert. Und als reiner Opportunist sah er in diesen Ernennungen den Höhepunkt seines Machtstrebens.
Was hat sich für Frauen in den USA seit der Dobbs-Entscheidung verändert?
Kurz gesagt: Sie wurden wieder zurück ins 19. Jahrhundert katapultiert. Der Zugang zu Abtreibungen gleicht heute einem Flickenteppich.
Was heißt das konkret?
Eine Frau aus Florida muss womöglich bis nach Virginia oder Washington, D.C., reisen, um legal eine Abtreibung vornehmen zu lassen – ein Weg, der nicht nur lang, sondern auch teuer ist. Für viele Betroffene sind diese Kosten schlicht nicht bezahlbar. Zwar gibt es Initiativen, die finanzielle Unterstützung anbieten, aber ohne umfassende und frei zugängliche Aufklärung und Kampagnen, die darüber informieren, bleibt unklar, wie eine mittellose Frau aus Südtexas überhaupt erfahren soll, an wen sie sich wenden kann. Es ist ein erschütternder Zustand, dass das grundlegende Recht auf körperliche Selbstbestimmung davon abhängt, in welchem Bundesstaat man lebt. Was viele dabei nicht bedenken: Die Dobbs-Entscheidung verändert nicht nur das Leben von Frauen, die ungewollt schwanger sind, sondern das Leben aller Frauen, die in den „falschen“ Bundesstaaten leben.
„Frauen gehen zwangsläufig ein höheres Risiko bei sexuellen Kontakten ein als noch im Jahr 2021“
Inwiefern?
Durch die Gesetzesänderung wurde der gesellschaftliche Status aller Frauen herabgesetzt. Sie müssen sich fragen: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, ungewollt schwanger zu werden? Und was mache ich dann? Frauen gehen zwangsläufig ein höheres Risiko bei sexuellen Kontakten ein als noch im Jahr 2021. Viele US-Amerikanerinnen haben Angst davor, ungewollt schwanger zu werden und nichts gegen die Schwangerschaft tun zu können. Dadurch befinden sich Frauen eindeutig in einer benachteiligten Position im Vergleich zu Männern. Bereits vor der Dobbs-Entscheidung gab es jedoch erhebliche Unterschiede beim Zugang zu Abtreibungen: Während weiße Frauen und solche mit ausreichenden finanziellen Mitteln oft Zugang zu guter geburtshilflicher und pränataler Versorgung hatten, sah die Realität für Schwarze Frauen und Women of Color sowie prinzipiell Frauen ohne diese Ressourcen völlig anders aus.
Wie stehen aktuell die Chancen, das Recht auf Abtreibung auf nationaler Ebene wieder einzuführen?
Schlecht. Mit der jetzigen Zusammensetzung des nationalen Parlamentes gibt es keine Mehrheit für Abtreibungsrechte. Zwar gibt es einen Gesetzesentwurf, den die Demokraten geschlossen unterstützen würden, doch die Republikaner blockieren ihn. Die erneute Präsidentschaft von Trump wird diese Lage wohl weiter verschärfen, da er bereits in seiner ersten Amtszeit mit der Ernennung konservativer Richter die Grundlage für die Dobbs-Entscheidung geschaffen hat. Trump hat sich immer wieder offen gegen Abtreibungsrechte positioniert und genießt starken Rückhalt von religiösen und konservativen Gruppen, die restriktive Gesetze befürworten. Solange keine Mehrheit im Kongress besteht, die Abtreibungsrechte stärkt, bleibt die Ebene der Bundesstaaten der einzige Ansatzpunkt für Fortschritte.
Inwiefern findet die Entscheidung, Abtreibung wieder über Bundesstaaten zu regeln und dort auch teilweise zu verbieten, Rückhalt in der Gesellschaft?
Meinungsumfragen nach der Dobbs-Entscheidung 2022 zeigten: Der Widerstand gegen Abtreibung ist hauptsächlich in der Republikanischen Partei verankert. Doch die Mehrheit der Menschen in den USA – unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit – lehnt das Gesetz ab.
„Die allermeisten wahlberechtigten Menschen sind zu jung, um sich an die Zeit vor dem nationalen Recht auf Abtreibung zu erinnern“
Warum ist es trotzdem dazu gekommen?
Ich glaube, viele US-Amerikaner*innen haben sich – in Bezug auf Abtreibungsrechte – nicht tiefgehend damit auseinandergesetzt, was es bedeutete, als sie 2016 für Trump gestimmt haben. Die allermeisten wahlberechtigten Menschen sind zu jung, um sich an die Zeit vor dem nationalen Recht auf Abtreibung zu erinnern. Sie wissen nicht, was die Ära der kriminalisierten Abtreibung tatsächlich bedeutete. Seit ihnen dieses Recht durch die Dobbs-Entscheidung tatsächlich entzogen wurde, herrscht vermehrter Widerstand.
Welche anderen Strategien gibt es, um reproduktive Rechte in den jeweiligen Bundesstaaten zu schützen?
Um das Recht auf Selbstbestimmung zu schützen und zurückzugewinnen, wären mehrere strategische Ansätze erforderlich. Erstens müssten auf Bundesstaatenebene gezielte Kampagnen gestartet werden, um Abtreibungsrechte in den Verfassungen der einzelnen Staaten zu verankern – ähnlich wie es in einigen progressiven Staaten, wie Kalifornien, New York oder Illinois bereits geschieht. Zweitens sollten Organisationen, die Betroffene finanziell und logistisch unterstützen, stärker gefördert werden, etwa durch die Finanzierung von Reisekosten oder den Zugang zu sicheren Kliniken. Ein weiterer wichtiger Schritt wäre, Medizinstudierenden aus Bundesstaaten, in denen Abtreibungen kriminalisiert wurden, dennoch Zugang zu Informationen über Schwangerschaftsabbrüche zu gewähren.
Wie könnten sich US-Amerikaner*innen für eine erneute Reform des Abtreibungsgesetzes engagieren?
Die Zivilgesellschaft und politischer Aktivismus sind hier von zentraler Bedeutung. In den 1970er-Jahren spielte die Frauenrechtsbewegung eine entscheidende Rolle bei der erfolgreichen Legalisierung von Abtreibungen. Damals lag der Fokus jedoch oft auf den Forderungen wohlhabender weißer Frauen, die sich vor allem um individuelle Wahlfreiheit drehten. Heute ist es essenziell, den Kampf von Beginn an breiter aufzustellen und Gerechtigkeit für alle in den Mittelpunkt zu rücken. Das ist eine große Herausforderung sowohl durch die politische Blockade auf nationaler Ebene und Trumps erneute Präsidentschaft als auch durch die tief verwurzelten Ungleichheiten in der Gesellschaft. Dennoch zeigen die Erfolge von Referenden auf Bundesstaatenebene, dass es breite öffentliche Unterstützung für legale Abtreibungen gibt. Darauf gilt es aufzubauen.
Dr. Rickie Solinger ist eine US-amerikanische Historikerin und Autorin, die sich intensiv mit Themen wie reproduktiver Gerechtigkeit, Frauenrechten und der Geschichte der reproduktiven Politik in den USA beschäftigt hat. Ihre Werke, darunter „Fighting Mad: Resisting the End of Roe v. Wade“, sind zentral in der Debatte über Abtreibungsrechte in den Vereinigten Staaten.
Titelbild: Probal Rashid/LightRocket via Getty Images; Portrait: James Geiser