Darf’s ein Barrel mehr sein?
Wegen Corona blieben viele Autos, Schiffe und Flugzeuge stehen: Der Ölpreis stürzte ab und führte die Schwachstellen der Weltwirtschaft vor. Ein FAQ
Während die Corona-Krise die Welt lahmlegte, brach an den Börsen die Hölle los: Anfang April sank der Preis für Rohöl drastisch. Einer der wichtigsten Rohstoffe, der bis vor kurzem noch um die 60 US-Dollar pro Barrel kostete, war plötzlich fast gratis zu haben. Die Händler*innen stürzten sich in den Ölausverkauf. Auch der kanadische Händler Syed Shah, der bei einen vermeintlichen Ölpreis von einem Cent kräftig in Öl investierte. Sein Plan: Wenn der Preis nur um einen Dollar steigen würde, hätte er seinen Einsatz verhundertfacht. Aber es kam anders.
„Der historisch tiefe Ölpreis hat nichts mit dem eigentlichen Wert des Öls zu tun“
Denn was Shah aufgrund eines technischen Darstellungsfehlers nicht sehen konnte: Am 20. April lag der Ölpreis nicht bei einem Cent, sondern war bis ins Negative gefallen. Heißt: Verkäufer*innen wie Shah hätten dafür zahlen müssen, dass ihnen jemand das Öl abnimmt. Um Mitternacht bekam Shah die Nachricht, dass er der Handelsplattform Interactive Brokers neun Millionen Dollar schuldet.
„Ich habe drei Nächte kaum geschlafen“, sagte Shah der Nachrichtenagentur Bloomberg. „Ich hatte das Gefühl, dass mir alles genommen würde.“ Was war passiert? Und warum hat der Ölpreis Auswirkungen auf die ganze Welt?
Wie für jedes andere Produkt gilt auch für Öl grundsätzlich: Der Preis entsteht durch Angebot und Nachfrage. Ein Preissturz entsteht also durch ein extremes Überangebot oder einen Einbruch der Nachfrage.
Dass der Ölpreis fällt, ließ sich bis vor kurzem noch mit einem Blick aus dem Fenster erklären: Weniger Autos auf den Straßen bedeuten weniger Ölverbrauch. Mit den Corona-Ausgangsbeschränkungen ging der Verkehr weltweit enorm zurück: Wo sonst 60 Prozent des geförderten Erdöls Autos, Lkws, Schiffe und Flugzeuge antreiben, wurde global rund ein Drittel weniger Öl gebraucht. Die Folge: Es gab mehr Rohöl als benötigt, der Preis fiel historisch tief.
Seit Mai steigt der Preis der zwei wichtigsten Ölsorten, West Texas Intermediate (WTI) und Brent, wieder langsam: auf heute 39,99 US-Dollar bzw. 42,19 US-Dollar pro Barrel (159 Liter). Am 20. April konnte der Preis aber kurzzeitig sogar ins Negative rutschen (bis zu -40 US-Dollar für WTI), weil die Öllager übervoll waren. Händler*innen wie Syed Shah mussten nun dafür zahlen, dass ihnen das Rohöl abgenommen wird. „Solange die Lager so voll sind, kann das immer wieder passieren. Der Negativpreis hat nichts mit dem eigentlichen Wert des Öls zu tun“, sagt Dora Borbély, Rohstoffanalystin bei der DekaBank. „Das Problem ist, dass es kurzfristig Lagerengpässe gibt.“
Plötzliche Preisveränderungen haben also nur indirekt mit dem Wert eines Rohstoffs zu tun. Sie sind hauptsächlich das Produkt besonderer Handelstätigkeiten. Denn Rohöl wird nicht nur physisch gehandelt wie Kartoffeln auf dem Wochenmarkt. Öllieferungen brauchen Vorlauf: Man kauft heute ein Fass und wird erst in ein paar Wochen beliefert. In der Zwischenzeit kann viel passieren. Darauf baut der Handel mit sogenannten „Futures“ oder „Terminverträgen“: Ein*e Verkäufer*in verpflichtet sich damit, den Käufer*innen eine bestimmte Menge Öl zu einem bestimmten Termin und Preis zu liefern.
Händler*innen wie Syed Shah besitzen kein physisches Öl und wollen auch gar keins haben. Ihr Geschäftsmodell ist es, Verträge günstig einzukaufen und später zu einem besseren Preis wieder zu verkaufen. Bei diesem Handel kann jeder mitspielen, der ein Aktiendepot hat – und keine Angst vor dem Totalverlust.
Shahs Ölvermögen besteht nur auf dem Papier – bis zum Stichtag. Jeden Monat gibt es einen Zeitpunkt, an dem die Verträge auslaufen und tatsächlich Öl geliefert werden muss. Für Syed Shah, der sich im Schnäppchenrausch mehr als 200.000 Barrel Öl gesichert hatte, wurde am Stichtag im April aus einer Spekulation ein neun Millionen US-Dollar schweres Problem. Normalerweise verkaufen die Händler*innen ihre Verträge an diesem Tag an „echte“ Ölgroßhändler, die den physischen Rohstoff lagern oder nutzen können. Weil es aber keine Nachfrage nach Öl gab und die Lager der Großhändler randvoll waren, ließen sie Spekulant*innen wie Shah stehen. Das führte zu der einmaligen Situation, dass der Ölpreis ins Negative fiel und die Spekulant*innen draufzahlen mussten, um ihre Ölpapiere loszuwerden.
Die Frage dabei ist: Welcher ist der „echte“ Ölpreis? Der kurzfristige, der vom Bauchgefühl der Händler*innen bestimmt wird, oder der langfristige, der sich an den Absatzmärkten der Industrie orientiert?
„Wir sehen viele kurzfristige Schwankungen des Ölpreises, weil der von der Stimmung der Händler abhängig ist“, sagt die Analystin Borbély. Glauben die Händler*innen an den Aufschwung der Weltwirtschaft? Für wie schlimm halten sie die wirtschaftlichen Einbußen durch die Krise? Befürchten sie einen zweiten Lockdown? All diese Einschätzungen beeinflussen, wie der Rohstoff Öl gehandelt wird.
Die Großhändler würden sich zwar an den kurzfristigen Preisen orientieren, weil sie eine Signalwirkung haben, sagt Borbély. Langfristig aber bestimme sich der Preis darüber, wie viel Erdöl gefördert wird und wie wichtig es in der Welt ist. „Solange wir den Rohstoff brauchen, um Personen und Waren zu transportieren, um Energie zu erzeugen, um die chemische Industrie am Laufen zu halten, stabilisiert sich der Preis nach jedem Absturz wieder.“ Das beobachten wir gerade: In den vergangenen Wochen ist der Ölpreis schon wieder moderat gestiegen.
Weil sich kein Erdölstaat eine Blöße geben will. Zur Erinnerung: Je weniger Öl auf dem Markt, desto höher der Preis. Warum die erdölfördernden Staaten ihre Produktion nicht sofort gedrosselt haben, als wahrscheinlich wurde, dass die Nachfrage durch die Corona-Krise einbricht? Weil der Erdölmarkt eine Art Mutprobe ist: Wer die Produktion zuerst drosselt, verliert zunächst Geld, weil die anderen Staaten mehr Erdöl verkaufen können. Wer weiterfördert, demonstriert Macht und nimmt trotz des niedrigen Preises relativ am meisten Geld ein – auch auf die Gefahr hin, den Markt dauerhaft zu schädigen. Hinzu kommt, dass sich manche Fördertechniken schwer unterbrechen lassen, wenn das Öl erst mal sprudelt, insbesondere beim Fracking. (Einer Förderungstechnik, bei der mit Druck Gesteinsschichten aufgebrochen werden.) Deswegen wird auf den Weltmeeren auch Öl in riesigen Tankern gelagert.
In den Wochen vor dem Ölcrash wurde sogar verhandelt, wie alle gleichzeitig weniger Öl fördern könnten. Die 13 OPEC-Staaten (ein Zusammenschluss 13 erdölexportierender Länder), angeführt von Saudi-Arabien, saßen mit zehn Nicht-OPEC-Mitgliedern zusammen, darunter Russland. Der weltgrößte Ölproduzent fehlte: Die USA hatten die Ölförderung aufgrund der fallenden Marktpreise schon drosseln müssen.
Russland wollte seine Ölförderung zunächst nicht drosseln. Eine Provokation, auf die Saudi-Arabien mit der Ankündigung reagierte, noch mehr Öl zu fördern als vorher. Expert*innen gehen davon aus, dass Russland darauf gesetzt hatte, die niedrigen Preise länger durchhalten zu können als Saudi-Arabien und so der US-amerikanischen Ölindustrie zu schaden: Der droht die Pleite, wenn der Ölpreis langfristig unter 40 US-Dollar bleibt.
Am Ende einigte sich die Länder, ihre Ölförderung geschlossen zu senken. Ab Anfang Mai sollte für mindestens zwei Monate täglich 9,7 Millionen Barrel weniger gefördert werden, das entspricht rund zehn Prozent der weltweiten Rohölproduktion. Noch im April haben die OPEC-Staaten und Russland trotz des Beschlusses mehr gefördert, schätzt die Analystin Borbély. „Absprachen sind schwer zu beschließen und noch schwerer einzuhalten.“ Am Ende können nur die Förderdaten für Juni zeigen, ob nicht doch ein Staat die Mutprobe gewinnen will – und die liegen noch nicht vor.
Für die meisten Industrienationen ist ein niedriger Ölpreis eine gute Nachricht, er gilt als Konjunkturpaket. Denn Öl ist nicht nur im Transportwesen gefragt: 40 Prozent werden zum Heizen und als Basisstoff für die chemische Industrie verwendet. Erdöl ist also in fast jeder Firma ein Produktionsfaktor – sei es, um die Firma zu heizen, um die Güter von A nach B zu transportieren oder weil Vorprodukte aus erdölbasierten Kunststoffen gefertigt sind. Erdöl findet sich in Düngemitteln, Medikamenten, Salben, Farben, Kosmetika, Waschmitteln, Matratzen, Schläuchen, elektronischen Geräten, Textilien oder Sneakern.
Weil der Rohstoff so allgegenwärtig ist, steigen mit dem Ölpreis auch die Produktionskosten. Die wälzen viele Hersteller*innen auf die Verkaufspreise und damit auf die Kund*innen ab. Mit steigenden Ölpreisen wird alles teurer – auch wenn die Menschen noch immer gleich verdienen. Diesen Vorgang nennt man Inflation, er kann ein ernstes Problem für die Volkswirtschaft werden. Das zeigt: Öl beeinflusst das gesamte Wirtschaftsgeschehen – zumindest solange wir keine Alternativen verwenden.
Länder wie Venezuela, der Irak, Ecuador oder Syrien, die stark von Ölexporten abhängig sind, müssen massive Einbußen befürchten. Bei dauerhaft niedrigen Ölpreisen stünden sie sogar vor dem Staatsbankrott.
Auffällig viele ölreiche Länder sind auch politisch instabil: die vier genannten, aber auch Saudi-Arabien, Iran, Russland oder Libyen. Expert*innen nennen das den Ressourcenfluch: Die Länder können ihre günstige Rohstofflage kaum für einen gesellschaftlichen Aufschwung nutzen, weil die Erdölförderung meist nur einer kleinen Elite dient. Und die hütet sich, ihren Reichtum zugunsten einer vielfältigen Wirtschaft oder gebildeten Bevölkerung einzusetzen.
Übrigens: Auch Donald Trump muss einen dauerhaften Tiefpreis fürchten: In den USA könnten weite Teile der Frackingindustrie pleitegehen, wenn der Preis dauerhaft unten bleibt. Ob die großen Ölunternehmen den US-Präsidenten dann im anstehenden Wahlkampf unterstützen, ist fraglich. Expert*innen glauben aber nicht, dass es so weit kommt. „Die Branche wird von der US-Regierung geschützt, ihr Überleben ist auch ein politisches Anliegen“, sagt auch Dora Borbély.
Kurz gesagt: alle, die Öl verbrauchen. In erdölimportierenden Ländern wie Deutschland stärkt der niedrige Preis zum Beispiel den Konsum und die Wirtschaft. Denn niedrigere Treibstoffkosten für Schiffe, Flugzeuge, Lkw und Busse machen meist auch die Produkte im Supermarkt ein bisschen preiswerter. Und das Reisen mit dem Auto sowieso. (Auch wenn man selbst bei einem erneuten Negativpreis für Öl nicht damit rechnen kann, an der Zapfsäule Geld geschenkt zu bekommen: Allein die Energiesteuer macht bei Benzin 65 Cent und bei Diesel 47 Cent pro Liter aus.)
Trotzdem kann ein niedriger Ölpreis auch die Verbraucher*innen in Deutschland teuer zu stehen kommen – wenn man die Folgekosten mitdenkt. Jedes Barrel Öl, das aus dem Boden geholt wird, verschärft den Klimawandel: Für die Bohrung werden Wälder gerodet, Menschen umgesiedelt und das arktische Ökosystem zerstört. Und die größte Menge des geförderten Öls wird in Form von Benzin, Diesel und Kerosin verbrannt – was große Mengen Kohlenstoffdioxid freisetzt.
Dieser Teufelskreis aus umweltschädlicher Förderung und klimaschädlicher Nutzung dreht sich weiter, wenn die Menschen weltweit unterwegs sind und konsumieren können. Insofern reduzieren die Reise- und Ausgangsbeschränkungen der Corona-Pandemie auch die CO2-Emmissionen. Die Umsätze der Branche könnten einbrechen wie nie zuvor. ExxonMobile hat, wie viele andere Ölkonzerne, bereits angekündigt, 2020 einige Milliarden Dollar weniger investieren zu wollen. Da es im Moment nicht mal genug Lagerkapazitäten für das vorhandene Billigöl gibt, werden die Konzerne auf große Förderabenteuer in der Arktis oder in der Tiefsee wohl vorerst verzichten.
So rückt die Abkehr von der Ölabhängigkeit unserer Wirtschaft mit der globalen Pandemie plötzlich näher: Noch vergangenes Jahr prognostizierte die Internationale Energie Agentur (IEA), dass der globale Ölverbrauch sich in den kommenden 20 Jahren um neun Prozent erhöhen würde. Nach dem coronabedingten Absatzeinbruch werden diese Prognosen neu berechnet werden müssen. Die IEA geht aber vorerst davon aus, dass der niedrige Ölverbrauch die globalen CO2-Emissionen 2020 um acht Prozent senkt. Nicht mal die Finanzkrise 2008 konnte für einen so großen Rückgang sorgen. Für die Umwelt und das Klima heißt das: erst mal aufatmen.
Und was wurde aus Syed Shah und seinen neun Millionen Dollar Ölschulden? Der 30-Jährige kam glimpflich davon. Das Computersystem von Interactive Brokers, über das er seine Geschäfte tätigte, hatte den Händler*innen nicht nur den falschen Ölpreis angezeigt, sondern sich auch aufgehangen: Die Handelsplattform verweigerte schließlich jeden Ölhandel. Selbst wenn Shah gewollt hätte, hätte er seine Terminverträge also an diesem Tag nicht rechtzeitig verkaufen können.
Die Betreiber der Plattform kündigten an, die Schulden der Händler*innen auf eigene Kosten zu begleichen. Der Gründer, Thomas Peterffy, ist übrigens zigfacher Milliardär. Sein Vermögen hat er an der Börse gemacht.
Titelbild: Laurent GRANDGUILLOT/REA/laif und TIMOTHY A. CLARY/AFP via Getty Images
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