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Hi Hypelitz?

Arbeitslosigkeit, Wegzug, Leerstand: Seit der Wende kamen aus Görlitz triste Nachrichten. Jetzt wächst die Stadt wieder. Wie hat sie das geschafft?

  • 8 Min.
Görlitz

Das Kühlhaus in Görlitz ragt majestätisch und brutal über die Baumkronen, als hätte jemand das Berghain in ein Wäldchen versetzt. Vor dem Industriegebäude sägen zwei Menschen in Mundschutzmasken Bretter. Aus der Garage nebenan steigt Dampf auf – jemand heizt die dort eingebaute Sauna an. Die Kühlhaus-Katze Renate läuft voran wie ein Hund, während Danilo Kuscher, 36, das Industriegebäude und das dazugehörige Gelände zeigt: die Tanzfläche und die Bar in der ehemaligen Maschinenhalle. Die Künstlerateliers in den ehemaligen Arbeiterbaracken. Das Retro-Hostel in den Garagen. Den idyllischen Campingplatz zwischen den Bäumen. Es ist eine kleine Welt für sich, eine grüne Utopie vor einer Kulisse aus Stahlbeton. 

Danilo – Dreitagebart, Cargohose, eine Weste voller Werkzeug – hat Mitte der Nullerjahre in dem verfallenden Kühlhaus auf illegalen Raves gefeiert. Vor der Wende wurden hier Lebensmittelreserven der DDR gelagert. Seit 1993 lag der Industrieklotz still: Auch die niederländische Kühlhauskette Frigolanda, die das Görlitzer Kühlhaus 1994 gekauft hatte, befand es für unrentabel und überließ es sich selbst.

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Danilo Kuscher, Vorsitzender des Kühlhaus Görlitz e.V
Als Jugendlicher hat Danilo Kuscher im Kühlhaus Underground-Raves gefeiert, heute organisiert er hier ganz legale Veranstaltungen

Viele Fabriken in Görlitz traf damals ein ähnliches Schicksal: 1991 machte ein Teil der Süßwarenfabrik zu, im selben Jahr das Bekleidungswerk Steppke, das zu DDR-Zeiten Kinderkleidung produzierte. 1999 schloss das Werk I des kurz zuvor von Bombardier übernommenen Unternehmens DWA Werk Görlitz, in dem Waggons hergestellt wurden. Auch Kohletagebauten wie der Tagebau Berzdorf machten dicht.

Wo Arbeitsplätze fehlten, gingen bald auch die Menschen. Zwischen 1989 und 2015 hat die Stadt ein Drittel ihrer Einwohner verloren: 1989 lebten 74.000 Einwohner in Görlitz, 2013 waren es nur noch 54.000. Doch seitdem wächst Görlitz wieder leicht, etwa 56.000 Einwohner leben aktuell in der Stadt. Menschen aus ganz Deutschland ziehen wieder her, insbesondere auch aus Polen – vor allem aus dem polnischen Zgorzelec am anderen Ufer der Neiße. Wie hat Görlitz das geschafft? 

Weggezogene kehren in den Osten zurück

Zum einen zog es Menschen wie Danilo zurück nach Görlitz. Nach seiner Ausbildung als Konstruktionsmechaniker fand er nur schlecht bezahlte Jobs und arbeitete stattdessen auf Baustellen in Österreich. An freien Tagen zog es ihn aber in die Heimat. 2008 nahmen er und vier seiner Freunde Kontakt zum Besitzer von Frigolanda auf, um das Kühlhaus vor dem Verfall zu retten. „Die Verhandlungen waren hart“, erzählt Danilo. Doch letztendlich erlaubte Frigolanda der Gruppe, das Gebäude zu nutzen und unterstützte einige Reparaturen sogar finanziell. 

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Kühlhaus Görlitz
Früher lagerten im Görlitzer Kühlhaus Karotten und Fleisch, heute treten hier Musiker wie Martin Kohlstedt auf

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Skatehalle, Kühlhaus, Görlitz
Im Erdgeschoss haben Skater die östlichste Skatehalle Deutschlands zusammengezimmert

Heute wohnt Danilo wieder fest in Görlitz und ist Vorstandsvorsitzender des Kühlhaus Görlitz e.V. Der Verein hat über 30 Mitglieder und veranstaltet Lesungen, Konzerte und Festivals im Kühlhaus. Musiker wie Martin Kohlstedt traten dort schon auf. Zusammen mit allen Görlitzern, die helfen wollen, baut der Verein die Industriebrache und das Betriebsgelände zu Ateliers, Werkstätten und Schlafplätzen aus. Die Einnahmen aus der Vermietung stecken sie in die Renovierung. Der letzte Sommer sei trotz der Pandemie erfolgreich gewesen, sagt Danilo: „Einige Veranstaltungen mussten abgesagt werden, doch das Hostel und der Campingplatz waren gut gebucht.“ Auch für diesen Sommer ist das Team optimistisch: Momentan müssen die Werkstätten und die Veranstaltungsräume drinnen zwar noch geschlossen bleiben, aber Touristen können wieder übernachten. Auch kleinere Konzerte auf dem Kühlhausgelände unter dem Pavillon sind geplant. 

 

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Alexander Rueth, macht das Freiwillige Soziales Jahr im Jugendhaus Rabryka
„Als ich jünger war, habe ich mich in Görlitz oft gelangweilt. Aber in den letzten Jahren ist viel passiert“, sagt Alexander Rueth. Er macht sein FSJ im Jugendhaus Rabryka

Nicht nur das Kühlhaus, auch andere Initiativen beleben verlassene Gebäude: Aus dem Gelände einer Futtermittelfabrik zum Beispiel hat Familie Thiel einen Reiterhof mit Pensionsplätzen gemacht. Auf einem anderen Industriegelände, das früher zu einer Hefefabrik gehörte, entstand 2013 Rabryka, ein Zentrum für Jugend- und Soziokultur. Letztes Jahr hat Rabryka auch das Waggonbauwerk I bezogen, das seit Ende der Neunziger brachlag. Heute stehen hier ein Tonstudio, Werkstätten und ein Hackerspace.

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Pferdehof, Görlitz
Auf dem Gelände einer ehemaligen Marmeladenfabrik hat Marianne Thiele einen pädagogischen Reithof mit geretteten Ponys eröffnet

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Görlitz
Sieht aus wie die Fusion, ist aber Görlitz. Nach der Wende zog es Tausende Menschen fort

„Das Wachstum der letzten fünf Jahre ist das Ergebnis der Entwicklungen davor“, sagt Hartmut Wilke, der Leiter des Amtes für Stadtentwicklung in Görlitz. „Der Zuzug aus Polen wurde 2007 möglich, als Polen Schengen beitrat, kam aber etwas verzögert.“ Insgesamt sei Görlitz zwar immer noch keine ganz jugendliche Stadt: Das Durchschnittsalter lag bei der letzten Erhebung bei 47,3 Jahren. Aber Wilke merkt, dass Jüngere nachkommen. Die Bevölkerung in der Altstadt sei inzwischen im Schnitt unter 40. „Wachstum befördert Wachstum“, sagt er. „Man braucht dann mehr Lehrer, mehr ärztliches Personal. Und das sind eben oft jüngere Menschen.“ 

Eine unversehrte Altstadt? Touristen und Regisseure reiben sich die Hände

Während des Zweiten Weltkrieges fielen vergleichsweise wenig Bomben auf Görlitz. Die rund 4.000 Görlitzer Baudenkmäler – von der Spätgotik bis zum Jugendstil – blieben deshalb unbeschadet – was viele Ausflügler anzieht. Die Schönheit der Stadt hat sich aber nicht nur bei Touristen, sondern auch bei Regisseuren wie Wes Anderson herumgesprochen: Mehr als 100 Filme wurden inzwischen in Görlitz gedreht, darunter „Grand Budapest Hotel“, „Inglourious Basterds“ und „Der Vorleser“. 

 

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Görlitz
Weil die Altstadt den Zweiten Weltkrieg nahezu schadlos überstanden hat, ist Görlitz Hollywoods Darling. Mehr als 100 Filme wurden hier gedreht, darunter „Grand Budapest Hotel“ oder „Inglourious Basterds“

Und auch industriell tut sich wieder was: Angestellte von klassischen Industrieunternehmen wie Siemens oder des Schienenfahrzeugherstellers Bombardier bangen zwar immer wieder, dass hier im Osten Stellen abgebaut werden. Dafür haben sich moderne Medizintechnik-Unternehmen in der Stadt angesiedelt, zum Beispiel das japanische Diagnostikunternehmen Sysmex und die Schweizer Firma Skan, die in Görlitz Reinraumanlagen für die Pharmaindustrie baut.

Billige oder sogar Gratismieten? Hallo, Selbstständige! 

Daneben wirbt die Stadt auch um eine andere Zielgruppe: Freiberufler und Selbstständige, die ihren Arbeitsplatz quasi selbst mitbringen. Zwischen Januar 2019 und Juni 2020 lief in Görlitz das Projekt „Stadt auf Probe“. Wer ortsunabhängig arbeitete, konnte sich darum bewerben, vier Wochen mietfrei in Görlitz zu wohnen und in einem Atelier zu arbeiten. 62 Menschen wohnten hier zur Probe, die meisten waren Kreative aus Großstädten. „Viele sagten, dass sie Görlitz ausprobieren wollten, weil der Druck in den Großstädten zu groß geworden sei: Die Mieten waren zu hoch, Arbeitsräume unbezahlbar“, sagt Constanze Zöllter, die das Projekt wissenschaftlich begleitete. „In Görlitz konnten sie aufatmen.“ Laut dem Immobilienportal Wohnungsbörse liegt 2021 die durchschnittliche Monatskaltmiete in Görlitz bei 5,65 Euro pro Quadratmeter. In Berlin sind es 17,42 Euro. 

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Görlitz, Polen
Vier Brücken verbinden Görlitz und das polnische Zgorzelec. Seit ein paar Jahren kommen mehr und mehr Junge ans deutsche Neiße-Ufer

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Constanze Zöllter
Constanze Zöllter leitete das Projekt „Wohnen auf Probe“. Geblieben sind aber nur eine Handvoll Kreative

„Noch sehe ich nicht die Gefahr, dass Görlitz zu Hypezig wird“, sagt Zöllter in einer Anspielung auf den Beinamen, den Leipzig bekam, als die Stadt plötzlich als das neue Berlin galt: Erst herrschte Leerstand, dann kamen die Unternehmen und Großstädter und schließlich die Gentrifizierung. Der Zuzug in Görlitz aber sei immer noch moderat. Die Hälfte der befragten Teilnehmenden konnte sich zwar vorstellen zu bleiben. Umgezogen seien am Ende aber nur fünf Haushalte. Vielen hätte eine schnellere Zuganbindung gefehlt und berufliche Netzwerke, die größere Städte bieten. 

Zöllter glaubt dennoch an Görlitz. „Stadt auf Probe“ habe gezeigt, dass Görlitz mit bezahlbaren Wohnungen, Platz und kurzen Wegen ins Grüne punkten konnte. „Das sind Merkmale, die auch auf viele andere ostdeutsche Städte vor allem in strukturschwachen Regionen zutreffen“, sagt Zöllter. Zudem habe die Corona-Pandemie verdeutlicht, dass Arbeiten im Homeoffice für viel mehr Arbeitende möglich sei als zuvor gedacht. Und wenn der tägliche Gang ins Büro entfällt, könnten sich mehr Menschen für einen Umzug entscheiden. Zum Beispiel nach Görlitz.

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