Dieses Bild. Zuletzt musste ich wieder oft an dieses Bild denken. Es zeigt die Besucher einer AfD-Wahlkampfveranstaltung auf dem Altmarkt von Cottbus, dem herausgeputzten Marktplatz meiner Heimatstadt. Keine Glatzen, keine Wutbürger, keine Deutschlandhüte, stattdessen Frauen und Männer, die aussehen wie Cottbuserinnen und Cottbuser eben aussehen: mittelalt, mittelgut gekleidet, mittelgut frisiert. Im Vordergrund muss eine Frau ihren Freundinnen gerade etwas Lustiges erzählt haben, die drei lachen. Niemand schaut zornig, viele eher gespannt, fast neugierig. Stünde anderes auf den Schildern als „Heimatliebe ist kein Verbrechen“, könnte das auch ein Konzert von Patrick Lindner sein.
Ich habe niemanden auf dem Bild erkannt, aber ich kenne die Menschen. Es sind Nachbarn, Fußballtrainer, Friseure oder Briefträger. Keine schlechten Leute, da bin ich sicher, viele würde ich mögen. Nur: Sie wählen halt Rechtspopulisten. Und je länger ich überlege, warum so viele nette, herzliche und mir eigentlich vertraute Menschen für rechtsextreme Positionen und Netzwerke stimmen, desto klarer wird mir: Es ist auch meine Schuld. Ich bin einfach gegangen.
„Cottbus fehlt mir. Ich glaube aber, dass ich der Stadt mehr fehle“
Wenn ich zu Besuch bin, spüre ich die Schuld besonders. Wenn ich höre, wie manche im Café reden oder im Fußballstadion. Wie das, was sie über Klimawandel und Geflüchtete sagen, meist unwidersprochen bleibt. Dann ist da das Gefühl, dass diese Stadt eine andere wäre, wenn ich geblieben wäre. Ich und so viele andere.
3,7 Millionen Menschen haben die neuen Bundesländer zwischen 1991 und 2017 verlassen. Cottbus verlor in dieser Zeit fast 14 Prozent seiner Einwohner, nur zwei ostdeutsche Regionen traf es härter. Ein kleiner Exodus, zu dem ich beigetragen habe: Ich bin in Cottbus geboren, war sieben als die Mauer fiel und ging 2003 zum Studieren nach Frankfurt. (Am Main, wie nur Ossis hinzufügen.) Später ging ich nach München, heute lebe ich in Berlin. Das ist näher dran, aber eben auch nicht Cottbus.
In den neuen Bundesländern leben laut einer Studie des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung heute nur noch 13,9 Millionen Menschen - etwa, 2,2 Millionen weniger als noch in der DDR. „Wäre die Einwohnerzahl in Ostdeutschland nach Kriegsende genauso gewachsen wie in Westdeutschland“, schreibt Felix Rösel, Autor der Studie, „würden in Ostdeutschland heute rund doppelt so viele Einwohner leben. Dresden und Leipzig wären Millionenstädte.“
Manchmal wünsche ich mich zurück. Cottbus ist nicht das gesellschaftliche Krisengebiet, als das es von außen oft beschrieben wird. Die Stadt ist schön, grün und ruhig. In ihr leben aufgeräumte, manchmal ein wenig sture Menschen. Die Stadt fehlt mir. Ich glaube aber – und das muss ich schreiben, obwohl es anmaßend klingt –, dass auch ich Cottbus fehle.
Nach der Wende gingen viele Junge, Neugierige. Es ging, wer sich etwas von der Zukunft versprach. Weil nur wenige zurückkamen, hinterließen sie ein gesellschaftliches Vakuum; eine Leere, die das Rückständige und Reaktionäre füllen konnte. Ganz einfach weil zu wenige da sind, die erzählen können, wie bereichernd das Neue sein kann und wie wenig man sich vor ihm fürchten muss. Wieso es gute Gründe dafür geben kann, ein Braunkohlekraftwerk zu schließen, Flüchtlinge aufzunehmen oder schwul nicht als Schimpfwort zu nutzen.
Abschottung und Intoleranz gelten dort als Antworten und Wahlargumente, wo viele Menschen gegangen sind. Das ist statistisch erwiesen und einfach zu erklären: Die, die weltoffen handeln, sprechen und wählen, tun das oft woanders. Und die, die geblieben sind und für eine offene Stadt kämpfen, haben es zwischen den Einschüchterungen der Neonazis und der üblichen Lausitzer Gleichgültigkeit noch schwerer.
„Weil ich es woanders besser haben wollte, habe ich meine Heimat im Stich gelassen. Ökonomisch, kulturell, vor allem politisch. Wie egoistisch“
Deshalb geht es mir gar nicht um die Neonazis, die auch durch Cottbus laufen. Mit denen lässt sich nicht diskutieren. Das Problem sind die, die ihre Vorurteile hegen wie Balkonpflanzen, sei es aus Borniertheit, Trotz oder verletztem Stolz. Die, die nicht wählen, um eine Partei zu stärken, sondern um andere abzustrafen. Die sich von Politikern und Journalisten abwenden, statt von ihnen einzufordern, sich mehr mit ihrem Leben zu befassen. Menschen, über die sich jeder Rechtspopulist freut.
Und ich? Beobachte das aus der Ferne, mit einem schlechten Gewissen, weil ich mich nicht einmischen kann. Ich habe mich einem der wichtigsten Bestandteile der Demokratie entzogen: dem Gespräch. Weil ich es woanders besser haben wollte, habe ich meine Heimat im Stich gelassen. Ökonomisch, kulturell, vor allem politisch. Wie egoistisch.
In diesem Interview erklärt der Historiker Marcus Böick, warum nach 1990 in Ostdeutschland so viele Menschen arbeitslos wurden
Schließlich hätte ich den Menschen auf dem Altmarkt etwas zu sagen: Zuallererst, dass ich sie verstehe. Die Treuhand, die Wessis, die ewigen Klischees und Zurechtweisungen. Viele, die die DDR als zu eng empfanden, sich 1989 über ihr Ende und die neue Aussicht freuten, wurden in der wiedervereinigten Republik gleich noch mal verarscht. Arbeitslos heißt wertlos, haben sie gelernt. Das prägt eine Region, die sich über Jahrzehte darüber definierte, die Kohle für ein ganzes Land aus dem Boden zu holen. Die mit dem Kohleausstieg bald ein zweites Mal abgewickelt wird, ohne dass es klare Alternativen gibt.
Ich habe wie alle, die gingen, einen Vorteil: Ich kann solche Gespräche ebenbürtig führen. Ohne die Arroganz und das Unverständnis vieler westdeutscher Kommentatoren, die sich aus ihren Altbauwohnungen kopfschüttelnd über die Hinterwäldler im Osten auslassen. Ohne zu bemerken, dass ihre Blätter dort eh niemand liest.
In diesem Jahr sind erstmals mehr Menschen nach Ostdeutschland gezogen als fortgegangen. Auch ich habe zuletzt häufig darüber nachgedacht. Ob ich wirklich mal zurückziehe, weiß ich nicht. Aber ich war zuletzt wieder häufiger zu Hause. Ich will mich einmischen, im Zug, auf der Straße, im Stadion. Darum geht es doch in einer Demokratie: miteinander reden, andere Position nachvollziehen, Vorurteile hinterfragen, die des Gegenübers und die eigenen. Ich will niemanden belehren. Ich will nur sagen, dass ich manches ganz anders sehe. Das könnte schon reichen.
Collage: Renke Brandt