Die Häuser der Erstaufnahmeeinrichtung Suhl, mit dem umliegenden Thüringer Wald / Nach dem Spiel klatscht Kian mit einer Mitspielerin ab

Rausgedribbelt

Kian* ist queer. Weil Homosexualität in ihrer Heimat Libyen unter Strafe steht, flüchtete sie nach Deutschland, doch auch hier ist es für sie nicht immer leicht. Der Fußball hilft ihr, durchzuhalten

Text: Erik Hlacer und Fotos: Carlotta Steinkamp
Thema: Migration
9. Mai 2025

Die Sonne senkt sich allmählich über dem Südhang des Thüringer Waldes. Kian hat sich noch schnell die Stutzen über die Knie gezogen. Ein paar letzte Trippelschritte zum Aufwärmen. Dann winkt der Schiedsrichter sie heran. Sie zeigt ihre Rückennummer, klatscht mit ihrer Mitspielerin ab und läuft auf den Platz. Es ist das erste Spiel des Jahres.

Kian ist Anfang 30, und Fußball ist ihr Leben. In ihrer Zweizimmerwohnung hängen mehr Trikots als T-Shirts am Kleiderständer. Die meisten sind vom FC Barcelona, ihrem Lieblingsklub. Sie unterstützt sowohl die Männer- als auch die Frauenmannschaft. Und Lionel Messi ist für sie der GOAT, der Greatest Of All Time.

Doch am liebsten spielt sie selbst. „Ich brauche nichts anderes im Leben als Fußball. Er befreit mich von meinen Depressionen.“

Kian ist in Libyen groß geworden, als Muslima in einer religiösen Familie. Doch schon früh erkannte sie, dass sie anders war. Sie wollte nicht beten oder heiraten. Sie fühlte sich ja nicht einmal hingezogen zu Männern. Im Internet entdeckte sie, dass es einen Begriff gibt, der sie beschreibt: genderfluid. Kian hat keine feste Geschlechtsidentität, ist aber auch damit einverstanden, als Frau bezeichnet zu werden.

In Kians Zimmer hängen mehrere Fußballtrikots auf einer Kleiderstange

Football for Life: An Kians Kleiderständer hängen mehr Trikots als T-Shirts

Kian schaut aus dem Fenster ihrer Wohnung

Kian am Fenster ihres Zimmers. Seid ihr Asylantrag bewilligt wurde, sind ihre Aussichten deutlich besser

Kians Leben veränderte sich, als sie begann, sich als Aktivistin für LGBTQIA+-Rechte einzusetzen. Zwar machte sie das anonym, doch die Behörden Libyens bekamen Wind davon. Für queere Personen ist es in Libyen äußerst riskant, ihre Identität offen zu leben, und Homosexualität steht dort unter Strafe – also flüchtete Kian über Umwege nach Deutschland. Hier ist die Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität als Fluchtgrund anerkannt.

Ende 2023 kam Kian nach Suhl, in die größte Erstaufnahmeeinrichtung Thüringens. Neun Monate lebte sie dort mit mindestens 800 anderen Geflüchteten, die oft aus streng konservativen und religiösen Umfeldern stammten. Als queere Person fühlte sich Kian deshalb unsicher. „Am Anfang habe ich das Regenbogen-Band an meiner Tasche zur Vorsicht entfernt.“ Doch sie merkte, dass sie nicht die einzige LGBTQIA+-Person auf dem Gelände war, und begann langsam, selbstbewusster mit ihrer Identität umzugehen. Sie sei ja nun schließlich in Deutschland.

Auf einmal flog eine Flasche

Eines Nachts, Kian stand draußen auf dem Gelände, leicht gebückt, um sich ihre Schnürsenkel zu binden, flog plötzlich eine Glasflasche über ihren Kopf hinweg und zerschellte auf dem Boden. Sie erschrak. Hätte sie aufrecht gestanden, hätte die Flasche getroffen. Kian schaute auf und sah ein offenes Fenster. Es gab keinen Zweifel mehr in ihrem Kopf: „Ich wurde wegen meiner Sexualität angegriffen.“ Erst wenige Tage vorher war eine queere Bekannte mit einem Stein beworfen worden.

Enttäuscht war Kian vor allem von fehlenden Anlaufstellen. Die Securitys hätten nach dem Flaschenwurf bloß gefragt, warum sie denn um die Uhrzeit überhaupt noch auf dem Gelände unterwegs sei. Und an anderen Tagen seien Sprüche gefallen wie „Bist du wirklich eine Lesbe? Ich kann dich dazu bringen, deine Meinung zu ändern“ oder „Du warst doch nur noch nie mit einem echten Mann zusammen“.

Für Kian war es schwer, diese Sätze bloß mit einem Augenrollen beiseitezuwischen. „Ich bin nicht den ganzen Weg hierhergekommen, um solche Sprüche zu hören in einem Land, das angeblich liberaler und sicherer ist.“ 

Kian (rechts) und ihre Mitspielerinnen sitzen beim Spiel auf der Ersatzbank und schauen aufs Spielfeld

Noch sitzt Kian (ganz rechts) auf der Ersatzbank, doch sie ist bereit für ihren Einsatz, nicht nur auf dem Spielfeld

Was Kian in dieser Zeit Halt gibt, ist ihr weißer Ball mit den türkis-rosa Verzierungen. Den hatte sie sich schon gekauft, bevor sie nach Deutschland kam. Und auch wenn er inzwischen etwas oll aussieht, nennt sie ihn noch immer „einen treuen Freund“.

Auf dem Gelände in Suhl gab es einen kleinen Fußballplatz, perfekt für eine Trickserin wie sie. Zwar war Kian beim Kicken oft die einzige Frau, aber die Leute respektierten sie dort. „Es war schließlich mein Ball.“ Und überhaupt seien die Jungs auf dem Fußballplatz viel zu weich gewesen. „Die haben schon beim kleinsten Körpereinsatz rumgeheult.“

Einmal, in einer ihrer depressiven Episoden, sprach Kian mit einer älteren Frau, die in Suhl Sportaktivitäten für Geflüchtete organisierte. Später wird Kian sie Großmutter nennen und Schutzengel.

Aus fremden Mitspielerinnen werden Freundinnen

Eigentlich wollte die ältere Frau Kian zum Tanzen überreden, Bewegung sei schließlich wichtig für Körper und Geist. Doch Kian sagte ihr, dass sie lieber Fußball spielen wolle. Die Frau kannte sich im Fußball kaum aus, fand dann aber über mehrere Ecken eine Frauenmannschaft in der Nähe – und fuhr Kian zu einem Probetraining. Aus einem Training wurden zwei. Aus Trainings wurden Spiele. Und aus fremden Mitspielerinnen wurden Freundinnen, die sie inzwischen zur Begrüßung umarmt und mit denen sie nach den Spielen ins Restaurant geht.

Beim ersten Spiel des Jahres geht es für Kians Mannschaft darum, die Tabellenführung zu verteidigen. Kian selbst sitzt zum Anpfiff noch auf der Bank. Sie hat gerade erst eine Verletzung hinter sich, und auf ihrer Position spielt der Star des Teams.

Den Trainer, kernig, aber umgänglich, nennen alle nur „Matze“. Er trägt einen Rucksack in den Farben der Deutschland-Flagge und kennt gefühlt jeden und jede am Fußballplatz.

Die Häuser der Erstaufnahmeeinrichtung Suhl, mit dem umliegenden Thüringer Wald

Umgeben vom Thüringer Wald: In der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl leben mehr als 800 Menschen

 

Kian auf dem Spielfeld im Duell mit einer Gegenspielerin

Teil des Teams: Kian (links) im Duell mit einer Gegenspielerin

Die Kian sei eine Gute, sagt Matze. „Andere gucken nur auf den Ball. Aber sie schaut immer genau, wo sie hinspielen muss.“ Sie stelle immer mal wieder was Verrücktes mit dem Ball an, dribbelt ihre Gegenspielerinnen im Eins-gegen-eins aus.

Doch Matze bekam auch mit, wie schwer es für Kian war, sich in Deutschland zurechtzufinden. „Wir haben sie immer gefragt, ob wir ihr irgendwie helfen können.“ Das konnte Matze tatsächlich im November, als der Fußballverband von allen Spielerinnen neue Passfotos haben wollte. Kians Asylantrag war zu diesem Zeitpunkt noch offen, sie wollte unbedingt anonym bleiben. Also beschwichtigte Matze den Verband.

Wenig später bekam Kian eine E-Mail vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Ihr Asylantrag wurde bewilligt. Sie darf in Deutschland bleiben. Als sie die Nachricht las, saß sie gerade im Deutsch-Sprachkurs und wusste gar nicht, wohin mit sich. Eine nie da gewesene Erleichterung übermannte sie. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Endlich konnte sie ihre Zukunft in Deutschland planen.

Sie will einfach nur ein ruhiges Leben und irgendeinen langweiligen Job

Dabei ist Planen ein großes Wort. „Ganz ehrlich“, sagt sie, „ich habe so viel durchgemacht. So viel Chaos erlebt. Ich will jetzt einfach ein ruhiges Leben und irgendeinen langweiligen Job.“ Und sie will die LGBTQIA+-Community in Suhl stärken. Kian hat dazu eine WhatsApp-Gruppe gegründet, inzwischen sind da 20 Leute drin. Sie treffen sich einmal im Monat, teilen ihre Erfahrungen, und das in einem sicheren Raum, wo sich niemand allein fühlt.

Ihr B1-Zertifikat hat Kian seit kurzem in der Tasche. Trotzdem redet sie lieber noch auf Englisch. Fürs Erste. Und noch will sie lieber unerkannt bleiben. Fürs Erste.

Der Schiedsrichter pfeift. Das Spiel ist vorbei. „Jawoll“, ruft Matze, während Kian ihren Mitspielerinnen ein High Five gibt. Ihre Mannschaft hat 3:1 gewonnen, und auch wenn sie selbst heute kein Tor beisteuern konnte – sie strahlt.

* Kian heißt eigentlich anders, ihr Name ist der Redaktion bekannt

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