Lange hat es nur wenig Rap aus ostdeutschen Bundesländern in den Mainstream geschafft. Dementsprechend unterrepräsentiert waren Ost-Perspektiven auf die DDR-Geschichte, den Fall der Mauer oder die Nachwende-Jahre. Zum Tag der Deutschen Einheit hat der Journalist Alex Barbian* sich deshalb auf die Suche begeben – nach deutsch-deutschen Identitäten und Ost-West-Storys im Rap.
Trettmann – „Grauer Beton“ (2017)
Trettmann, bürgerlich Stefan Richter, war schon in der DDR ein Hip-Hop-Head. In einer Zeit, in der es in Karl-Marx-Stadt Rap-Platten allenfalls unter der Ladentheke zu kaufen gibt, näht sich der junge „Tretti“– orientiert an seinen Adidas tragenden Helden aus den USA – auf eigene Faust drei weiße Streifen auf seine Stoffjacke. Als einen Monat nach seinem sechzehnten Geburtstag die Berliner Mauer fällt, ist plötzlich alles anders: Trettmanns Heimatstadt heißt auf einmal Chemnitz, und die Welt scheint ihm nun offenzustehen. Leider stellt sich die neu gewonnene Freiheit für Trettmann und viele andere Jugendliche aus dem Plattenbaugebiet „Fritz Heckert“ in den Folgemonaten als Illusion heraus. Vor der Tür ergibt sich ein Bild, das mit der „bunten Welt in der Leuchtreklame“ aus dem Westen nur wenig zu tun hat: „Grauer Beton, rauer Jargon“ ist alles, was ihm von seiner Heimat übrig geblieben zu sein scheint – Arbeitslosigkeit und rechtsfreie Räume, die von gewaltbereiten Neonazis ausgefüllt werden.
Pyranja – „Kennzeichen D“ (2000)
Alle Spielarten des SED-Staates in einem knapp vierminütigen Song abzuhandeln, ohne dabei auf einen emotionalen Spannungsbogen zu verzichten, ist quasi unmöglich. Pyranja, die es als weibliche MC aus Mecklenburg-Vorpommern zu Beginn der Zweitausenderjahre ohnehin gewohnt war, in einer Stuttgart-Hamburg-Ruhrpott-Heidelberg-geprägten Männerdomäne gegen Wände zu rennen, hat sich dieser Herausforderung trotzdem gestellt. In „Kennzeichen D“ überträgt sie das von wechselseitigem Misstrauen und behördlicher Willkür geprägte Grundrauschen des DDR-Alltags in sprachliche Bilder: „Kaum atmest du alleine, heißt das Urteil lebenslang“, rappt sie zum Beispiel an einer Stelle. Selten vor und selten nach Pyranja wurde im deutschsprachigen Hip-Hop so präzise über das Gefühl, eingesperrt zu sein, gerappt.
Disko Degenhardt – „Rote Kirschen“ (2012)
Stell dir vor, du bist zehn Jahre alt, gehst eines Morgens in die Schule, kommst mittags nichtsahnend nach Hause und stellst fest, dass deine Eltern weg sind. Beide. Einfach so. Disko Degenhardt – heute unter dem Alias Vandalismus aktiv – ist genau das passiert. Die Inhaftierung seiner Eltern durch die Staatssicherheit macht ihn über Nacht zum Schlüsselkind und zwingt seine Oma für mehr als drei Jahre in die Mutterrolle. Degenhardts Eltern sitzen ihre Strafe als politische Gefangene in unterschiedlichen Haftanstalten ab, bis die Bundesrepublik die beiden im Frühjahr 1989 freikauft. Die Familie trifft in einer Asylunterkunft in Bayern wieder aufeinander und zieht wenig später nach Düsseldorf, wo zumindest Vandalismus bis heute geblieben ist. Er hat seine Familiengeschichte vor acht Jahren en détail und – Triggerwarnung – höchst emotional in der Ballade „Rote Kirschen“ erzählt.
Zugezogen Maskulin – „Steine & Draht“ (2017)
Die Lebensläufe von Hendrik Bolz und Moritz Wilken – besser bekannt als Testo und grim104 vom Hip-Hop-Duo Zugezogen Maskulin – scheinen sich auf den ersten Blick stark zu ähneln. Beide sind 1988 zur Welt gekommen, beide sind Küstenkinder. Nach dem Abi haben beide ihrer schnöden Kleinstadt den Rücken gekehrt, um nach Berlin überzusiedeln, wo beide – und das auch noch zeitgleich – Praktikanten bei der Hip-Hop-News-Plattform rap.de waren und ein paar Jahre später zu Berufsmusikern wurden. Und dennoch gibt es einen Faktor, der ihre Lebensgeschichten sehr unterschiedlich beeinflusst hat: Testo ist Ossi, grim ist Wessi. Im Song „Steine & Draht“ haben sich die beiden mit ihren jeweiligen Familienstammbäumen und der Kontinuität dramatischer historischer Einschnitte beschäftigt, die ihre Eltern und Großeltern im Laufe der letzten 100 Jahre erlebt haben: Nationalsozialismus, Wirtschaftswunderland, Kalter Krieg, Arbeiter-und-Bauern-Staat. Gleichzeitig ist das dreigliedrige Drama „Steine & Draht“ eine umfassende Auseinandersetzung mit dem durchaus kontroversen und schwer definierbaren Begriff „Heimat“.
Sido – „Hey du“ (2009)
Sido hat seine Ostberliner Wurzeln lange vor der Öffentlichkeit verheimlicht. Eigentlich kein Wunder, hat man ihn aufgrund seiner Herkunft doch schon auf dem Schulhof angefeindet und ausgelacht. Als seine Rap-Karriere um 2002 Fahrt aufnimmt, schustert er sich ein markantes Image zusammen: Sido mimt den Bilderbuch-Badboy mit Totenschädel-Maske, inszeniert sich als Kind des Märkischen Viertels, einer Hochhaussiedlung am Stadtrand des ehemaligen Westteils der Hauptstadt. Als sich Sido dann 2009 im Zuge seiner Videosingle „Hey du“ ungewohnt angreifbar als „Ostlerjunge“ outet, steht die Szene kopf. Im Song erzählt er detailreich von der Fluchtgeschichte seiner alleinerziehenden Mutter und greift sensible Kindheitserinnerungen auf – zum Beispiel aus seiner Zeit in einem Westberliner Asylbewerberheim.
Kummer – „Schiff“ (2019)
Kraftklub wollten nie nach Berlin. Und nach München sowieso nicht. Die fünfköpfige Band hat Chemnitz bis heute die Treue gehalten und mit der Ausrichtung ihres eigenen Festivals sieben Sommer hintereinander Tausende junge Menschen aus der ganzen Bundesrepublik ins sächsische „Hinterland“ gelockt. Dabei hat die Gruppe stets versucht, mit positiver Einstellung gegen den durchwachsenen Ruf ihrer Geburtsstadt anzukämpfen, die in den vergangenen Jahren vor allem wegen rassistisch motivierter Ausschreitungen in den Medien war. Auf seinem Soloalbum „Kiox“ hat Kraftklub-Sänger Felix Kummer das Positive etwas zurückgeschraubt und seine Hassliebe zu Chemnitz auf mehreren Tracks ehrlicher denn je zum Ausdruck gebracht. In „Schiff“ vergleicht er die Stadt mit einem unaufhaltsam sinkenden Dampfer: „Rostbraune Flecken an den Wänden unter Deck … Und wenn man das jahrzehntelang so lässt, dann geht das später nicht mehr von alleine weg“. Blühende Landschaften? Na ja.
Pöbel MC – „Patchworkwendekids“ (2020)
„Deine Ossi-Parodie ist nur ’ne Wessi-Fantasie“, singt Pöbel MC in seinem Song „Patchworkwendekids“. Wenn es um seine Rostocker Heimat geht, hat der Musiker nicht das geringste Bedürfnis, den „Pseudo-Assi“ zu geben, den etwa der Rapper Finch Asozial mit seiner Parodie eines Ostdeutschen verkörpert. Ossi zu sein, das bedeutet für Pöbel MC, mit Respekt und Bescheidenheit durchs Leben zu gehen, selbst aussichtslosen Problemlagen mit Kreativität zu trotzen und materiellen Reichtum niemals zu hoch zu priorisieren. In „Patchworkwendekids“ erinnert sich „der Pöbler“ an die abenteuerlichen Kindheitstage, die er mit seiner alleinerziehenden Mutter in einer Kohleofen-beheizten Altbauwohnung verbracht hat, und schlägt im letzten Vers sogar eine appellartige Brücke zwischen der Wende- und der Jetztzeit: „Mauern fallen, doch zu viele wachsen weiter. Die Welt als Einheit oder einzeln daran scheitern.“
* Alex Barbian ist Journalist und Moderator, beschäftigt sich die meiste Zeit des Tages mit Rapmusik, ist in Thüringen aufgewachsen und lebt in Berlin.
Titelbild: Tobias Kruse / OSTKREUZ