Thema – Identität

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Wenn die Therapiestunde kein Safe Space ist

Auch die Psychotherapie ist nicht frei von Rassismus – und bisher gibt es nur wenige diskriminierungssensible Angebote. Wir haben mit Betroffenen und Therapeutinnen gesprochen

Illustration: Renke Brandt

Erst konnte Kimya* stunden- und fast tagelang nicht aufhören zu weinen. Später hat sie sich so leer gefühlt, dass sie nicht einmal mehr weinen konnte. „Die rassistischen Erfahrungen, die ich, meine Familie und Freunde als Schwarze Personen im Alltag machen, haben bei mir irgendwann tiefe Trauer und Verzweiflung ausgelöst“, erzählt die 24-Jährige. 

Vor drei Jahren machte sie sich erstmals auf die Suche nach einem Therapieplatz. Erst etwa zwei Jahre später führte sie ein Erstgespräch. Es gibt ohnehin zu wenige freie Plätze – noch schwieriger wird es, wenn man wie Kimya nach Therapeut*innen sucht, die selbst People of Color (PoC) sind, oder nach rassismussensiblen Angeboten.

„Und woher kommen Ihre Eltern?“

Ihre erste Therapiesitzung hatte Kimya deshalb auch mit einer weißen Therapeutin. Zunächst hätten die beiden über Grundsätzliches gesprochen. Doch als Kimya gegen Ende der Sitzung von ihrem geisteswissenschaftlichen Studium berichtete, habe die Therapeutin mit folgendem Satz reagiert: „Das ist beachtlich, schließlich ist es bestimmt schwer, in einer Fremdsprache zu studieren.“ Kimya klärte die Therapeutin auf, dass Deutsch keine Fremdsprache für sie sei. Woher kommen Sie denn?, Woher kommen Ihre Eltern?, Sind Sie dann adoptiert? seien die nächsten Fragen gewesen. Was folgte, war ein Gespräch, in dem Kimya der Therapeutin mitteilte, wie unangebracht ihre Fragen seien. Zwischen den beiden entstand eine Diskussion über rassistisches Verhalten. „Zum nächsten Termin bin ich nicht gegangen, weil solche Situationen genau der Grund waren, warum ich eine Therapie gesucht habe“, erklärt Kimya.

Therapeutin Sema Akbunar, die selbst PoC ist und eine interkulturelle psychologische Praxis leitet, hört oft von solchen Erfahrungen durch PoC-Patient*innen. „Das ist schon ein Schlag ins Gesicht. ‚Du bist weit gekommen‘ sagt ja indirekt: ‚Ihr seid eigentlich minderwertiger.‘“ Diese subtilen Demütigungen, Mikroaggressionen genannt, erleben Menschen, die von Rassismus betroffen sind, meist täglich. In der Therapie, in der man sich eigentlich öffnen soll und sicher fühlen will, trifft einen das noch mehr.

Kimyas Erfahrungen zeigen: Die Psychotherapie ist nicht immer frei von Rassismus. Therapeut*innen reproduzieren zum Beispiel das N-Wort oder sprechen Betroffenen ihre Erfahrungen ab. Das zeigt auch der Afrozensus, die erste umfassende Studie, die sich mit den Lebensrealitäten, Perspektiven und Diskriminierungserfahrungen von Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland beschäftigt. Dort gaben 2020 62 Prozent der Befragten an, dass ihre Rassismuserfahrungen bei der Psychotherapie nicht ernst genommen und infrage gestellt werden.

Für die 33-jährige Betty* war deswegen von Anfang an klar, dass sie nur zu einer PoC in Therapie gehen möchte. Doch selbst als sie einen entsprechenden Therapieplatz fand, waren die Probleme damit nicht gelöst. Denn wie viele Therapeut*innen hat auch dieser keinen Kassensitz – die Krankenkassen übernehmen somit die Therapiekosten nicht. Betty versuchte es mehrfach über ein sogenanntes Kostenerstattungsverfahren, bei dem die Krankenkasse die Kosten unter bestimmten Umständen dennoch übernimmt und das mit vielen Formularen und Nachweisen verbunden ist.  Der Therapeut habe ihr bei den Anträgen sogar geholfen, seine Beratungen musste sie selbst bezahlen, so Betty.

Die schwierige Suche nach sensiblen Therapeuten

Der Antrag wurde abgelehnt. Grund: Es gäbe genug Therapeut*innen, die über die Kasse abrechnen. Dass diese nicht rassismussensibel sind, spielte offenbar keine Rolle. „Das hat sich angefühlt, als hätte all die Arbeit, die ich als psychisch belastete Person reingesteckt habe, keinen Sinn ergeben“, erzählt Betty. Sie wechselte daraufhin die Krankenkasse. Gerade ist sie erneut dabei, die Unterlagen für das Verfahren zusammenzutragen.

Die schwierige Suche nach rassismussensiblen Therapeut*innen und rassistische Erfahrungen in der Therapie führen dazu, dass viele PoC erst gar keine Hilfe in Anspruch nehmen oder Therapien abbrechen, ergab der Afrozensus. Dabei sei diese Hilfe für Rassismusbetroffene umso wichtiger, denn die Erfahrungen können zu Angststörungen, depressiven Störungen und Panikattacken führen. Um das zu ändern, müsse sich bereits die Ausbildung der Therapeut*innen weiterentwickeln: Schwarze Therapeut*innen kritisieren, dass das Thema Rassismus im Studium sowie in der Ausbildung zu kurz komme.

„Es tut sich langsam etwas, aber das Thema ist in der Lehre noch nicht obligatorisch verankert“, sagt auch Therapeutin Stephanie Cuff-Schöttle, die ebenfalls als PoC positioniert ist. Seit vielen Jahren gibt sie rassismussensible Weiterbildungen für Fachkräfte. In diesen beschäftigen sich Teilnehmer*innen mit den Lebensrealitäten von Rassismusbetroffenen, Begrifflichkeiten und der Selbstreflexion als weiße Person. Viele weiße Fachkräfte seien dann erst mal schockiert.

Da sie mit den Weiterbildungen bisher immer nur eine kleine Gruppe erreicht, arbeitet Cuff-Schöttle aktuell mit der Trainerin Mashanti Alina Hodzode und dem Pädagogen Anthony Owosekun an der Webseite „De-Construct“. Dabei soll eine Videoplattform entstehen, auf der Fachkräfte sich überregional online zum Thema Rassismus weiterbilden können. Gleichzeitig sollen Absolvent*innen der Kurse auf der Webseite gelistet werden, sodass PoC, die nach rassismussensiblen Therapeut*innen suchen, schneller fündig werden. „Meines Wissens kann man bei der Psychotherapeutenkammer nämlich bislang keine Liste mit rassismussensiblen Therapeut*innen erhalten“, erklärt Cuff-Schöttle.

Merken, dass man nicht allein ist

Auf dem Weg zu einer strukturellen Veränderung geht es schleichend voran. Doch die Nachfrage nach rassismussensiblen Plätzen ist bereits jetzt hoch. „Es hat mir im Herzen wehgetan, die Leute immer abzulehnen, weil ich keinen Platz hatte“, sagt die Therapeutin Sema Akbunar. Deswegen bietet sie zusammen mit ihrem Kollegen Marcel Badra seit kurzem eine Gruppentherapie für BPoC (Black and People of Color) an. Auf die neun Plätze hätten sich 150 Leute gemeldet, weshalb sie nun daran arbeiten, weitere Gruppen aufzubauen.

Neben der Tatsache, dass in einer Gruppe mehrere Menschen gleichzeitig behandelt werden können, hat sie für Patient*innen auch eine stärkende Wirkung, so Akbunar: „Sie merken, dass sie nicht allein sind, und bekommen bestätigt, dass sie in unserer Gesellschaft einer Mehrfachbelastung ausgesetzt sind.“ Eine Person in der Gruppe hätte viel darüber gesprochen, dass ihre Haare als Kind oft von Menschen einfach angefasst wurden. Während sie erzählte, hätte die Hälfte der Gruppe genickt. „Da kam nicht die Frage: Was ist denn daran schlimm? Jeder wusste sofort, worum es geht“, erinnert sich Akbunar. Zwar verschwinden durch die Therapie nicht die rassistischen Erfahrungen im Alltag, Patient*innen lernen aber, besser damit umzugehen.

Immer mehr Therapeut*innen wie Sema Akbunar und Stephanie Cuff-Schöttle setzen sich für mehr Rassismussensibilität in der Psychotherapie ein. Zu Akbunar gehen auch weiße Therapeut*innen freiwillig in Supervision, um sich dem Thema zu nähern. PoC, die akut Hilfe brauchen, aber keinen freien rassismussensiblen Therapieplatz finden, rät sie: „Schreibt euch auf Wartelisten und sucht in der Zeit Orte auf, an denen ihr euch wohlfühlt. Das kann eine Selbsthilfegruppe sein, ein Healing Circle oder Communitytreffen von Organisationen. Man sollte nur nicht allein bleiben mit seinem Leidensdruck.“

* Namen geändert

Illustration: Renke Brandt

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.