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Eine Serie wie eine Kuscheldecke

Die dritte Staffel von „Heartstopper“ ist gestartet. Dass der Hype der Serie ungebrochen ist, liegt auch an dem Safe Space, den sie für viele schafft

  • 6 Min.
Joe Locke und Kit Connor

Charlie läuft eine schwach beleuchtete Straße entlang, zieht sein Handy aus der Hosentasche. 0.03 Uhr. Er öffnet Instagram, seinen Chat mit Nick, dessen Haus er eben verlassen hat. Charlie schaut in den Himmel, lächelt. Dann tippt er: „Ich liebe dich“, doch sein Daumen bleibt über dem „Senden“-Button stehen.

Mit dieser Szene endete im Sommer 2023 die zweite Staffel der Netflix-Serie „Heartstopper“, die seit der ersten Staffel im Frühjahr 2022 einen weltweiten Hype erlebt. Alice Osemans Liebesgeschichte von Nick und Charlie, zwei Teenager aus einer südenglischen Kleinstadt, wurde schon im ersten Monat 53 Millionen Stunden angeschaut. Auf Rotton Tomatoes erhielt die erste Staffel ein Rating von 100 Prozent. In 54 Ländern landete „Heartstopper“ unter den Top 10 der meistgesehenen Netflix-Sendungen. Nun ist die dritte Staffel der Coming-of-Age-Serie erschienen.

Der eine, Charlie, lebt zum Zeitpunkt, in dem die dritte Staffel einsetzt, schon einige Jahre offen schwul. Der andere, Nick, hatte sich erst im Verlauf der zweiten Staffel als bi geoutet. Jetzt, da die beiden ihre Beziehung offen leben, scheint alles „perfekt“, wie es Charlie ausdrückt. Sie laufen händchenhaltend durch den Zoo, Knutschen beim Rugbytraining und denken darüber nach, ob und wann sie das erste Mal „Ich liebe dich“ sagen oder Sex haben wollen.

Vom Webcomic zum Welterfolg

Wäre da nicht das animierte schwarze Loch, das Charlies Kopf in manchen Szenen umkreist. Stimmen, die ihm sagen, dass er ekelhaft sei, so wie früher seine Mobber, die ihn dafür verhöhnten, dass er schwul ist. Wäre da nicht sein Drang, das Essen in Stückchen aufzuteilen, bevor er es in den Mund nimmt, oder dann doch gar nichts zu essen. Wäre da nicht Nicks Sorge um Charlie und seine Angst, was wird, wenn er, Nick, zur Uni geht.

2016 startete Oseman als Studentin den Webcomic „Heartstopper“. Charlie und Nick, die zuvor schon als Nebencharaktere in Osemans Debütroman „Solitaire“ auftauchten, bekamen nun also ihre eigene Geschichte. Oseman lud für den Webcomic, der ihr zufolge bis heute 124 Millionen Mal aufgerufen wurde, fertige Seiten hoch, die Community kommentierte diese. Der erste gedruckte Band von „Heartstopper“ wurde 2019 ein Überraschungserfolg. Inzwischen gibt es fünf Bände, die in 37 Sprachen übersetzt und von denen weltweit mehr als acht Millionen Exemplare verkauft wurden. Oseman, die sich das Comiczeichnen selbst beibrachte, schrieb auch das Drehbuch für die Netflix-Adaption.

 
Joe Locke und Jenny Walsh als Charlie und Tori Spring in 'Heartstopper'
Stecken unter einer Decke: Charlie und seine ältere Schwester Tori in „Heartstopper“

Die dritte Staffel ist der bisher beste Teil von „Heartstopper“ – deutlich dunkler, ernster und erwachsener. Die Staffel zeigt, wie absurd parallel manches abläuft, wenn man jung ist: Das Leben kann einerseits geprägt sein von mentalen Problemen wie Essstörungen, Panikattacken und Zukunftsängsten, und andererseits kann man trotzdem Lust auf Sex und Partys haben. „Ich bin zwar krank, aber das heißt nicht, dass ich keinen Spaß haben und ein Teenager sein kann“, sagt Charlie, der nach einem Streit mit seiner Mutter zu Nick geflohen ist.

Auf die zunehmende sexuelle Anziehungskraft zwischen den beiden deuten animierte pinke Funken hin, die immer dann sprühen, wenn sie sich berühren. Eine Hommage an die Graphic-Novel-Vorlage. Chatverläufe werden eingeblendet, immer wieder gibt es einen Splitscreen zwischen zwei Szenen, wie zwei Fenster eines Comics. Animierte Schmetterlinge, Laubblätter oder Blumen fliegen, je nach Jahreszeit, durch das Bild, wenn ein besonders emotionaler Moment passiert.

 

Die LGBTQI+-Community selbst ist zu „Heartstopper“ geteilter Meinung: Während manche die Serie als Wohlfühlserie und Safe Space empfinden, sehen andere darin ein queeres utopisches Märchen. Einige Situationen werden von Zuschauenden zwar durchaus als authentisch eingestuft, bei anderen halten sie eher schmerzhafte und abweisende Erfahrungen dagegen. Tatsächlich hat „Heartstopper“ aber sogar einige Fans inspiriert, sich selbst zu outen.

Mobbing, Trauma, Akzeptanz

Obwohl „Heartstopper“ in erster Linie eine Geschichte über zwei Teenager ist, finden auch ältere Zuschauende in der Serie womöglich eine Art Bewältigungsstrategie. Als erwachsene Zuschauerin fragt man sich zumindest, ob die Schulzeit nicht anders verlaufen wäre, wäre da eine solch unterstützende Freundesgruppe gewesen, wie Charlie und Nick eine haben. Damit wird das Trauma, das Charlie oder andere Teenager:innen durch Mobbing erlebt haben, nicht wettgemacht. Es zeigt aber, dass es manchmal nur diese eine Person braucht, die dich so akzeptiert, wie du bist, und dich liebt – ob romantisch oder freundschaftlich –, um sich dem Trauma zu stellen.

Kit Connor und Joe Locke, die Nick und Charlie spielen, wurden durch die Netflix-Adaption ähnlich berühmt wie ihre Figuren. Die beiden Anfang 20-Jährigen gelten als Aushängeschilder der queeren Community – allerdings nicht unbedingt freiwillig. Einige „Fans“ spekulierten nach dem Erscheinen der Serie über Connors sexuelle Identität – er solle, so der Vorwurf, den Eindruck erweckt haben, als sei er bi, um seine Rolle und damit die Serie zu promoten (ein Phänomen, das „Queerbaiting“ genannt wird). Daraufhin sah sich Connor Ende 2022 dazu genötigt, sich öffentlich als bi zu outen. „Ich denke, einige von euch haben echt nicht verstanden, worum es in der Serie geht“, schrieb er auf der Plattform X.

Die Prominenz der beiden Hauptdarsteller sowie der Hype um „Heartstopper“ sind gerade in Zeiten wichtig, in denen in manchen Ländern die mediale Repräsentation von queeren Lebensrealitäten eingeschränkt wird. In Ungarn dürfen Buchhandlungen die „Heartstopper“-Bücher beispielsweise nur eingeschweißt und nicht in der Jugendbuchabteilung auslegen, weil Kinder und Jugendliche laut einem Gesetz keine Darstellungen von Homosexualität zu Gesicht bekommen sollen. In den USA wird mancherorts erbittert darüber gestritten, ob die Bücher in Bibliotheken zugänglich für Jugendliche sein sollen. Die Netflix-Show wurde in der Türkei erst ab 18 zugelassen, mit dem Argument, sie sei nicht für Kinder geeignet (in Deutschland ist die Altersfreigabe von „Heartstopper“ ab 6 Jahren).

„Heartstopper“ ist also aus vielerlei Gründen eine unverzichtbare Serie: Sie bildet eine queere Lebensrealität ab, in der ein heteronormatives Bild keinen Platz hat. Und sie schafft es dabei, sich wie eine kuschelige Decke um einen zu legen – und so Hoffnung zu machen, wie viel sich durch Liebe und Freundschaft heilen lässt.

Die acht Folgen der 3. Staffel von „Heartstopper“ laufen auf Netflix.

Fotos: Netflix/Samuel Dore

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