Thema – Ukraine

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Das magische Denken

Lange Zeit haben sich viele Menschen kaum für die Ukraine interessiert. Dabei ist das Land durch seine Lage und Geschichte enorm wichtig für Europa, findet Serhii Plokhy, Professor für ukrainische Geschichte an der Harvard-Universität

Fotos: Julie Poly

fluter: Herr Plokhy, wo liegt die Ukraine eigentlich genau: mitten in Europa, wie viele Menschen in Ihrem Heimatland sagen, oder doch eher am östlichen Rand?

Serhii Plokhy: Europa ist immer auch als intellektueller Raum zu verstehen. Im 18. Jahrhundert entstand die Idee, dass sich Europa bis zum Ural erstreckt, die russischen Kolonien dahinter in Sibirien lagen bereits in Asien. So gesehen befindet sich die Ukraine fast genau im Zentrum Europas. Auch kulturell gab es über Jahrhunderte eine enge Verbindung zwischen der Ukraine und Europa.

Der Name Ukraine bedeutet „Grenzland“. Was sind das für Grenzen?

Die Ukraine ist historisch betrachtet eine Art Kontaktzone zwischen östlichem und westlichem Christentum, Judentum und Islam. Über lange Zeit war sie aufgeteilt zwischen Österreich-Ungarn, Polen-Litauen, dem Russischen und dem Osmanischen Reich. Das heißt: Es kamen sehr viele kulturelle Einflüsse zusammen. Für das heutige Verständnis ist es meiner Meinung nach wichtig, dass die kulturellen Einflüsse des Westens am wichtigsten für die Identität des Landes waren.

Im Fall der Ukraine sehen wir gerade, wie sich eine Nation rund um Werte wie Meinungsfreiheit und Demokratie bildet

Aber noch heute sieht es doch so aus, als gäbe es einen proeuropäischen Westen und einen nach Russland tendierenden Osten.

Nur weil zwei Sprachen gesprochen werden – Ukrainisch und Russisch –, heißt das nicht, dass es nicht eine gemeinsame Identität gibt, die sich durch den Wunsch nach Demokratie, Freiheit und stabilen staatlichen Institutionen auszeichnet. Auch Russland hat das falsch eingeschätzt und geglaubt, seine Panzer und Soldaten würden im Donbas von russischsprachigen Menschen jubelnd empfangen. Stattdessen gab es auch viele, die sich ihnen mit ukrainischen Fahnen entgegengestellt haben. Durch den Krieg ist das Land geeinter. Aber das schließt nicht aus, dass es pluralistisch ist, was die Sprachen anbelangt oder auch die Religion. Wolodymyr Selenskyj ist zum Beispiel der einzige jüdische Präsident außerhalb Israels.

Das Wort Nation hat für viele Deutsche einen negativen Beigeschmack. Fehlt uns daher manchmal das Verständnis für das ukrainische Streben, eine zu sein?

Ich erinnere mich an die deutsche Wiedervereinigung, als mir meine damaligen deutschen Kollegen erzählten, dass es dabei nicht um die deutsche Identität und die Nation gehen würde. Ich musste damals schmunzeln. National zu denken hat ja nicht unbedingt was mit Nazis zu tun. Im Fall der Ukraine sehen wir gerade, wie sich eine Nation rund um Werte wie Meinungsfreiheit und Demokratie bildet – und diese Werte gegen eine Macht verteidigt, die keine Nation sein will, sondern ein imperiales Reich. Die Ukraine ist ein Land, in dem die Demokratie überlebt hat. Nach 1990, aber auch 2004 und 2013, als Russland versucht hat, ein autoritäres Regime zu installieren. All das mündete in heftige Proteste auf dem Majdan.

Rückt die Ukraine gerade mehr nach Westen oder umgekehrt: Europa mehr nach Osten?

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich Länder wie die Bundesrepublik stark nach Westen gewandt, nach dem Fall der Mauer waren es dann die Länder des ehemaligen Ostblocks wie Polen oder das Baltikum. Sie sahen die Gelegenheit, dem russischen Einfluss zu entkommen, und traten Bündnissen wie der EU und der NATO bei. Die Ukraine fand sich plötzlich in einer Grauzone wieder zwischen Ost und West. Aber auch die Ukraine versuchte, so weit wie möglich von Russland abzurücken und frei ihr Schicksal zu bestimmen.

Magisches Denken
Sich der Bildsprache der sowjetischen Propaganda zu widersetzen und das Leben ungefiltert und ironisch zu dokumentieren – das war seit den 1960er-Jahren das Anliegen der „Charkiwer Schule der Fotografie“ – einer weltweit bedeutenden Fotobewegung. Bis in die Gegenwart greifen junge Künstlerinnen und Künstler die Ideen dieser künstlerischen Avantgarde auf und stellen sich dem bürgerlichen Geschmack entgegen. Yulia Polyashchenko, die sich Julie Poly nennt, ist heute eine der bekanntesten Vertreterinnen der Charkiwer Schule. Ihre Bilder vereinen Dokumentiertes mit Inszeniertem, visuelle Codes aus Mode, Kunst und Popkultur mit dem ukrainischen Alltag – wie auf dieser Bahnfahrt quer durch die Ukraine. Sie lasse sich von „trivialen Dingen, alltäglichen Ereignissen“ inspirieren, sagt Julie Poly – und von „Geschichten aus dem Leben von Freunden und meinen eigenen Erfahrungen“.

Was lief dann schief?

Unter anderem gab es dieselben Bedenken des Westens wie heute. Man sah die Ukraine geschichtlich nah bei Russland und wollte Russland nicht reizen. Der damalige russische Präsident Boris Jelzin sollte nicht von russischen Nationalisten gekippt werden. Wenn man nach Gründen sucht, warum die Ukraine nicht in der NATO ist, dann ist eine Antwort immer wieder, dass der Westen seine Beziehungen zu Russland nicht verschlechtern wollte.

Wenn der Westen die demokratischen Bewegungen der Ukraine also zu wenig unterstützt hat, wie hat die Demokratie dann überleben können?

Durch die Menschen. Die ukrainische Zivilgesellschaft hat ihre Stärke während der Orangen Revolution im Jahr 2004 unter Beweis gestellt, als sie ihr Wahlrecht verteidigte und den Vormarsch des Autoritarismus stoppte. Die Demokratie in der Ukraine hat schon die schwierigste Zeit um 1990 herum überstanden, als sie in Russland, Belarus und den meisten postsowjetischen Republiken in weite Ferne rückte.

Je aggressiver Russland wurde, desto mehr wurden die Handelsbeziehungen ausgeweitet. Mit dem Geld für Gas und Öl hat sich Russland weiter hochgerüstet

Haben die westlichen Länder der Ukraine zu wenig Beachtung geschenkt und Russland zu viel?

Absolut, besonders Deutschland. Das geht auch auf die Ostpolitik der 1970er-Jahre zurück unter Willy Brandt. Damals akzeptierte man die Teilung Europas in Ost und West und setzte auf Wandel durch Annäherung. Ein anderes Schlagwort war „Wandel durch Handel“: Man fing an, Öl und Gas in Russland zu kaufen. Damals entstand der Glaube, dass man durch gute Geschäfte den Frieden bewahrt. Und als die Mauer fiel, war das die Bestätigung dafür. Aber die Rezepte von gestern müssen nicht die von heute sein. Der Fehler war, diese Art Politik nicht zu ändern, als Russland immer aggressiver und offen imperialistisch auftrat. Der russische Krieg in Tschetschenien 1994, später in Georgien – all das hat die Politik nicht beeinflusst. Im Gegenteil: Je aggressiver Russland wurde, desto mehr wurden die Handelsbeziehungen ausgeweitet – und mit dem Geld für Gas und Öl hat sich Russland weiter hochgerüstet. Dass auf diese Art Frieden und Wohlstand erhalten bleiben, war magisches Denken.

1994 hat die Ukraine ihre Atomwaffen an Russland abgegeben. War das rückblickend betrachtet ein Fehler?

Es war vor allem ein gebrochenes Versprechen. Mit dem sogenannten Budapester Memorandum verzichtete die Ukraine auf die Atomwaffen, die aus der Sowjetzeit dort lagerten und immerhin das drittgrößte Arsenal weltweit waren. Den USA, Großbritannien, China und Frankreich war es lieber, dass alles in einer, nämlich russischer Hand blieb. Als Gegenleistung erhielt die Ukraine Sicherheitsgarantien von den westlichen Mächten. Man versprach dem Land, einzuschreiten, sollten seine Integrität und Souveränität bedroht werden. Dieses Versprechen wurde gebrochen, als Russland 2014 die Krim annektierte – und kaum etwas geschah. Dabei gab es schon 1994, zur Zeit des Abkommens, in Russlands Parlament Diskussionen über eine Annexion der Krim. Man hätte da schon ahnen können, was später passierte. Wenn man vor diesem Hintergrund sieht, wie der ukrainische Präsident heute um Waffen betteln muss, ist das beschämend. Ich denke, dass die Länder, die damals Sicherheit versprochen haben, nun in der Verantwortung stehen, Waffen zu liefern.

Wie sieht es mit Deutschlands Verantwortung aus?

Deutschland hat eine besondere Verantwortung, denn immerhin fand ein Großteil der Verbrechen der Nazis auf ukrainischem Gebiet statt. Denn Hitler hat nicht Russland, sondern die Sowjetunion angegriffen, die nicht nur aus Russland bestand. Wenn man schaut, in welchen Ländern es im Zweiten Weltkrieg proportional zur Bevölkerung die meisten Opfer gegeben hat, dann findet man unter den ersten dreien nicht Russland, sondern: Polen, Belarus und die Ukraine.

Mit Selenskyj sehen wir nun einen Präsidenten, der seine Stellung nicht dazu nutzt, der reichste Mensch des Landes zu werden – wie einige seiner Vorgänger

Sie meinen, dass Deutschland die Ukraine schon wegen der Geschichte unterstützen muss?

Ich will nicht sagen, dass die Geschichte der einzige Grund ist, aber sie ist sehr wichtig. Wenn von manchen gesagt wurde, man könne keine Panzer liefern, weil deutsche Panzer schon mal in Russland waren, dann ist das historisch fragwürdig: Wenn man auf die Landkarte und die Zahlen schaut, war die Ukraine im Vergleich zu Russland das viel größere Opfer. Das ist in Deutschland vielen nicht klar.

Die Belange der postsowjetischen Staaten bekommen gerade so viel Aufmerksamkeit wie nie. Verlagert sich das politische Zentrum Europas zurzeit Richtung Osten?

Es gibt einen Spruch in den USA: Krieg ist Gottes Art, den Amerikanern Geografie beizubringen. Ich fürchte, das trifft derzeit auch auf viele Länder in Europa zu. Die Zonen politischer Unklarheit werden weniger, vieles klarer. Zum Beispiel, dass Russlands Ziel ist, die Ukraine zu erobern und die Nation zu zerstören. Davor kann die Ukraine nur die Nähe zur EU und zur NATO retten. Also ja: In dem Maße, in dem die Ukraine nach Westen tendiert, tendiert das Zentrum Europas nun weiter nach Osten.

Magisches Denken

Die Kritik an der Ukraine entzündet sich oft daran, dass es rechtsextreme Bewegungen und einen Kult um den Nationalisten Stepan Bandera gibt, der Massenerschießungen im Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat.

Vor 2014 war Bandera vor allem in der Westukraine für einen Teil der Bevölkerung eine Art Volksheld. Nach dem Beginn des Krieges wurde er dann zunehmend von vielen als Unabhängigkeitskämpfer wahrgenommen. Die meisten Ukrainer, die heute angesichts des Angriffs der Russen Sympathien für Bandera hegen, identifizieren sich nicht mit dem radikalen Nationalismus der Dreißigerjahre. Ich sage nicht, dass es kein Problem mit Rechtsextremismus gibt, aber es ist nicht größer als in anderen Ländern und eignet sich nicht, die Ukraine als Land von Nazis zu diffamieren, wie es die russische Propaganda tut. Die rechtsextremen Parteien sind seit 2014 nicht mehr in Fraktionsstärke im Parlament, weil sie die Fünfprozenthürde nicht genommen haben.

An den Majdan-Protesten sollen sich ebenfalls ultrarechte Gruppen beteiligt haben.

Die Rechtsextremen waren eine von vielen Gruppen, die an den von den prodemokratischen Kräften dominierten Protesten teilgenommen haben.

Ein EU-Beitritt wurde auch immer wieder wegen der Korruption im Land zurückgestellt. Sehen Sie da Veränderungen?

Viele Menschen haben den Schauspieler Selenskyj gewählt, weil sie von korrupten Politikern die Nase voll hatten. Zudem versprach er Frieden. Tatsächlich sehen wir nun einen Präsidenten, der seine Stellung nicht dazu nutzt, der reichste Mensch des Landes zu werden – wie einige seiner Vorgänger oder auch Putin in Russland. Es gab auch vor dem Krieg bereits Gesetze, um die Macht der Oligarchen zu beschränken. Dann kam mit dem Krieg erst einmal eine Zeit, in der es so eine Art Übereinkunft gab, sich vor allem um das Überleben zu kümmern und manches zu verschieben. Das ist vorbei. Die Journalisten sind nicht mehr still, sie recherchieren die ganze Zeit. Und der Präsident distanziert sich von den Beamten, die Korruption in den Ministerien tolerieren. Mal sehen, wie effektiv das ist. Aber es ist ein Ansatz, den es seit 1991 nicht gab.

Wie könnte die Ukraine nach dem Krieg aussehen?

Geeint wie noch nie. Die Chancen stehen gut, dass die Ukraine stärker als Nation daraus hervorgehen wird. Dann wird es um die weitere Integration in die westlichen Systeme gehen – in die NATO und in die EU. Der Preis für all das ist sehr hoch, und der einzige Weg, ihn zu reduzieren, ist, der Ukraine zu helfen, sich zu verteidigen. Das Land steht an vorderster Front eines globalen Konflikts, bei dem es um Demokratie und Freiheit auf der einen Seite geht und Autokratie und Diktatur auf der anderen.

Und was wird, wenn die Ukraine den Krieg verliert?

Ganz einfach: Schauen Sie nach Belarus. Dort leben die Menschen in einer Autokratie.

Der in Saporischschja aufgewachsene Serhii Plokhy ist Leiter des Fachbereichs für ukrainische Geschichte an der Harvard University. Er veröffentlichte mehrere Bücher über die Ukraine, darunter „Das Tor Europas – die Geschichte der Ukraine“ und „Die Frontlinie“, erschienen im Rowohlt Verlag.

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