fluter.de: Ihr seid beide im Iran geboren und als junge Erwachsene nach Deutschland gekommen. Wie kam es dazu, dass ihr hier zusammen Filme macht?
Narges Kalhor: Wir kannten uns schon aus dem Iran von einem Sprachkurs beim Goethe-Institut und sind fast zur gleichen Zeit nach Deutschland gekommen. Bei mir war es Glück im Unglück, dass ich irgendwann an der Filmhochschule in München gelandet bin, wo Aydin mir als Dolmetscher beim Bewerbungsgespräch geholfen hat.
Aydin Alinejad: Ich bin regulär als Student nach München gekommen und wusste zum Beispiel schon, wo ich wohnen würde. Eine komplett andere Erfahrung. In die Lage von Narges kann ich mich gar nicht hineinversetzen – das ist eine krasse Geschichte.
„Shahid“ erzählt einen Teil dieser Geschichte. Der Film hat autobiografische Züge und lässt eine Schauspielerin als „Narges Shahid Kalhor“ auftreten. Und er deutet die Umstände an, unter denen du, Narges, 2009 Asyl in Deutschland beantragt hast.
Narges: Ich war damals mit einem Kurzfilm aus dem Studium in Teheran beim Menschenrechts-Filmpreis in Nürnberg eingeladen. Den Film hatte ich underground gedreht, im Iran konnte ich ihn nicht zeigen. 2009 war die Stimmung im Iran ein bisschen wie jetzt: Alle haben sich positioniert.
2009 war das Jahr der Grünen Bewegung, die nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl gegen die Regierung von Präsident Mahmud Ahmadineschad protestierte. Dein Vater war damals Berater des Präsidenten. Im Film ist zu sehen, dass dein Asylantrag in der Presse hohe Wellen geschlagen hat.
Narges: Schon davor ging durch die Nachrichten: „Die Tochter von Ahmadineschads Berater ist ohne Kopftuch auf einem Menschenrechtsfestival.“ Ich hatte damals keinen Kontakt mehr zu meinem Vater, meine Eltern waren längst getrennt. Aber ich musste mich positionieren: Auf der Seite meines Vaters oder dagegen? Klar, ich war dagegen, und dann musste ich entscheiden, ob ich in den Iran zurückkehre oder nicht. Im bayerischen Zirndorf, das auch im Film zu sehen ist, habe ich den Antrag auf Asyl gestellt und in einem Heim für Flüchtlinge gewohnt. Das war der Moment, in dem ich vielleicht mein Leben riskiert habe. Weil man vorher ja nicht weiß, ob man nach einem Jahr oder nach acht Jahren rauskommt – oder ob man zurückgeschickt wird.
Der Film zeigt eindrückliche dokumentarische Szenen von der Flüchtlingsunterkunft.
Narges: Ich habe damals einen Dokumentarfilm gemacht mit allen, die mit mir in Zirndorf gewesen sind. Wie ich es in „Shahid“ sage: Ich hatte Glück, vielleicht auch aufgrund meines Nachnamens. Die deutschen Behörden haben schnell gearbeitet, und ich bin nach drei Monaten mit einem blauen Asylpass rausgekommen. Andere bleiben Jahre ohne Papiere, bis klar ist, ob sie überhaupt im Land bleiben dürfen. Diese Unterschiede sind auch Thema des Films.
Der Film ist allerdings keine klassische Autobiografie, sondern umfasst mehrere thematische Ebenen. Wie würdet ihr selbst in drei Sätzen beschreiben, worum es in „Shahid“ geht?
Narges: In „Shahid“ geht es darum, dass eine Frau ihren Nachnamen ändern möchte. Das Wort „Shahid“ bedeutet Märtyrer. Dadurch, dass das Wort für die Hauptfigur eine Geschichte in sich trägt, begegnet die Figur dieser Geschichte in ihrer Gegenwart in Deutschland.
Aydin: Es geht um die Versinnbildlichung davon, wie unsere Generation im Ausland versucht, einen Weg zu finden, sich von der Vergangenheit loszulösen.
Narges: Das klingt besser! (lacht)
Shahid ist ein Name, den die Hauptfigur von ihrem Urgroßvater geerbt hat, der vor mehr als 100 Jahren als Märtyrer gestorben ist. Die Hauptfigur sagt einmal: „Ich will mit der ganzen Scheiße nichts mehr zu tun haben.“ Warum wurde der Konflikt um den Namen zum Ausgangspunkt des Films?
Narges: Auch das ist meine eigene Geschichte: Ich wollte Shahid rausnehmen lassen aus meinem Nachnamen.
Aydin: Im Iran haben viele Leute zwei Nachnamen. Wir stellen uns meist mit unserem Lieblingsnamen vor, doch in Deutschland müssen beide Namen zusammengeschrieben werden, deswegen heißen wir hier alle komisch. Narges heißt eigentlich Shahid Kalhor – aber im Pass wird es zusammengeschrieben. Oft ist man dann mit Problemen konfrontiert. Bei mir hat ein Hausmeister mal Vor- und Nachname verwechselt und einfach das Schild auf dem Briefkasten verändert. Und bei Narges…
„Unsere Probleme können natürlich nicht damit gelöst werden, einfach ein Wort aus dem Namen rauszulassen“
Narges: … sagen alle nur: „Frau Shahid hier! Frau Shahid dort!“ In der Realität habe ich den Prozess für eine Namensänderung gar nicht angefangen. Aber für den Film hat Aydin recherchiert, wie das bürokratisch in Bayern funktioniert: Es braucht viele Dokumente, ein psychologisches Gutachten und so weiter. Im Film ist der Konflikt mit dem Namen und seiner Bedeutung ein Zugang zu der schweren, von männlicher Macht geprägten Vergangenheit, die ich aus dem Iran nach Deutschland mitgebracht habe. Aber unsere Probleme können natürlich nicht damit gelöst werden, einfach ein Wort aus dem Namen rauszulassen.
Ihr experimentiert im Film mit unterschiedlichen Stilen: Es gibt Tanzeinlagen, Theater, Animationen, Film-im-Film-Szenen. Was wollt ihr mit der Form erzählen?
Aydin: Die Form entwickeln wir immer zuerst, und sie muss in einem guten Verhältnis zum Inhalt stehen. Wenn wir zum Beispiel erzählen, wie die Hauptfigur durch die bürokratischen Hürden geht, hat die Geschichte eine eher „dokumentarische“ Form.
Narges: Aber dann verwenden wir plötzlich die Szenen, die eigentlich nicht für die Veröffentlichung bestimmt sind: die Outtakes. Wenn alle nicht mehr wissen, dass die Kamera noch läuft, und ihre echten Gesichter zeigen.
Aydin: Dann gibt es eine Theaterform, mit der wir wie in einem Comic sehr schnell Versatzstücke aus der Vergangenheit darstellen. Das ist eine Erzählweise aus der iranischen Tradition, die sehr musikalisch ist und noch aus vorislamischer Zeit stammt.
Narges: Mir ist es wichtig, dass sich die Zuschauer in einem 85-minütigen Experimentalfilm nicht langweilen. Deshalb nutzen wir alle Möglichkeiten: Musik, Tanz, bildreiche Elemente. Uns beiden war von Anfang an bewusst, dass wir so viele Ebenen einbauen.
Eine Art Musicalszene wiederholt sich: Die Protagonistin geht aus dem Haus und wird von ihrem Urgroßvater und weiteren Männern in schwarzen Gewändern verfolgt. Sind das die Schatten der Vergangenheit?
Narges: Ja, diese Szene soll sich wie ein Loop anfühlen. Das heißt, wir brauchten auch im Text und in der Musik sich wiederholende Themen. Wir wollten, dass die Körper der Tänzer, wenn sie die Hände hochheben, größer werden, wie bei einer Fledermaus. Die Kostüme sind von einer Designerin aus dem Iran.
Spiegelt sich das Prinzip der Wiederholung auch im Bild, das der Film von der Geschichte des Irans zeichnet?
Aydin: Wenn man nur auf die kurze Zeit von Narges‘ Urgroßvater bis heute guckt: Seit 1905 gibt es im Iran immer wieder und zuletzt in kurzen Abständen revolutionäre Ereignisse mit gewaltsamen Folgen. Also unheimlich viel Leid, das die Menschen, vor allem Frauen, ertragen mussten. Ja, das Muster wiederholt sich leider auch.
Narges: Im Film gibt es dieses Bild: eine nackte Frau mitten in diesem riesigen Schatten von Männern, die im Kreis um sie herumtanzen. Es gibt eine Sehnsucht, dass wir diesen Teufelskreis beenden. Aber wir gehen immer wieder zurück auf Anfang. Vielleicht wird es der jüngeren Generation gelingen, daraus auszubrechen. Den 18- oder 19-Jährigen, die „Frauen, Leben, Freiheit“ auf die Beine gestellt haben.
Narges, du hast in Bezug auf deine Filme mal das spanische Wort „cinemigrante“ (ein Kofferwort für „migrantisches Kino“) benutzt. Was bedeutet das für dich?
Narges: Den Begriff habe ich in Argentinien gelernt. Ich meine damit: Diesen Film zum Beispiel kann keine deutsche Filmemacherin in Deutschland und keine Iranerin im Iran machen. Wir transformieren unsere Ideen und unseren Background in die deutsche Sprache. Für mich als Migrantin ist das etwas, das fehlt, wenn wir heute über Diversität reden. Es geht nicht darum, nur ein paar neue Gesichter vor die Kamera zu stellen, sondern darum, dass auch die Mentalität der Filmschaffenden divers ist. Solche Filme könnte es noch viel mehr geben, wenn Menschen, die noch nicht perfekt Deutsch sprechen und – wie wir zum Beispiel – 25 oder 30 Jahre anderswo gelebt haben, trotzdem Vertrauen, ein Budget und eine Plattform bekommen würden, um ihre eigene Geschichte in diesem Land zu erzählen.
„Shahid“ feierte auf der Berlinale 2024 Premiere und läuft ab dem 1. August regulär in den deutschen Kinos.
Fotos: Leonie Huber; Portraits: privat