Worum geht’s?
Um das Leben von Ángels, Nati, Marga und Patri, vier junge Frauen mit Lernschwierigkeiten. Sie leben in einer Wohngemeinschaft in Barcelona, weil sie endlich selbstbestimmt und frei leben wollen anstatt eingesperrt in einer Behinderteneinrichtung, die alle vier als „Behindertenknast“ bezeichnen und dorthin nie wieder zurückkehren wollen. Von den neuen Mieter*innen ist ihre Nachbarschaft, wozu auch ihr Vermieter gehört, allerdings gar nicht begeistert und droht den jungen Frauen, die Wohnung zu kündigen.
Worum geht’s wirklich?
„Simple“ erzählt davon, welche Ansprüche die nichtbehinderte Dominanzgesellschaft an die jungen Frauen stellt und wie sie sich verhalten sollen, um nicht deren Missgunst auf sich zu ziehen. Begleitet werden sie dabei von der Sozialarbeiterin Laia, die den vieren wohlwollend gegenübersteht, sie allerdings auch bevormundet. Laia wiederum muss sich vor ihrer Vorgesetzten Anna verteidigen. Die respektiert Menschen mit Lernschwierigkeiten nämlich nur, wenn diese ihre, Annas, Vorstellungen von einem geregelten Leben einhalten. So nimmt zum Beispiel das Thema Sexualität in „Simple“ viel Raum ein. Dabei geht es vor allem darum, dass auch Frauen mit Lernschwierigkeiten frei entscheiden wollen, auf welche Weise sie ihre Sexualität ausleben wollen, Beziehungen führen oder auch Kinder bekommen möchten.
Wie ist es erzählt?
„Simple“ basiert auf dem Roman „Leichte Sprache“ der spanischen Autorin Cristina Morales. In der Serie wird in fünf etwa 30-minütigen Folgen das Zusammenleben der Frauen in ihrer Wohngemeinschaft geschildert. Dabei spielt Humor eine große Rolle, um die Autonomie und Kreativität der Frauen zu betonen, mit der sie sich jeglichen Hürden des Alltags stellen. Die Frage, die sich durch die Serie zieht, ist: Wird Freizügigkeit und Provokation Menschen mit Lernschwierigkeiten auf gleiche Weise zugestanden wie nichtbehinderten Personen?
In einer Szene tanzt Marga bei einem Straßenfest ausgelassen und später ohne Unterhose auf dem Balkon ihrer Wohngemeinschaft. Margas sexuelle Freizügigkeit erinnert an die Hippiebewegung, die besonders stark von Studierenden getragen wurde. Ihr Verhalten wird aber von Menschen wie Anna, die studiert hat und in ihrer Position Macht über behinderte Menschen wie Marga ausüben kann, ganz anders und viel negativer bewertet und ruft auch entsprechende Reaktionen hervor: Weil Marga mit vielen Männern schläft, sieht Anna sie als sexsüchtig an und versucht, sie dazu zu bringen, sich sterilisieren zu lassen.
Der Roman findet dafür klare Worte. In der Serie kommt das oft nicht ganz so deutlich rüber. Ein Grund dafür ist, dass hier eine Erzählstimme fehlt, welche die Hintergründe und Gedanken der Protagonist*innen den Zuschauer*innen näherbringen könnte. Die verleiht im Roman der gesellschaftskritischen Botschaft der Geschichte noch einmal deutlich mehr Tiefe. Auffällig ist auch, dass außer Anna Marchessi, die Patri verkörpert, keine weitere der Hauptdarsteller*innen eine Behinderung hat. Diese weit verbreitete Praxis, nichtbehinderte Schauspieler*innen für Figuren zu casten, die eine Behinderung haben, wird von Wissenschaftler*innen und Behindertenrechtsaktivist*innen „Cripping up“ genannt und als ableistisch kritisiert. Man kann also infrage stellen, inwiefern „Simple“ dem Anspruch, die Lebenswelt von Frauen mit Lernschwierigkeiten realistisch darzustellen, gerecht wird.
Lohnt sich das?
Ja, auch wenn es einige Schwachpunkte gibt. Wie auch Cristina Morales an der Verfilmung ihres Romans kritisierte, wird die Behindertenhilfe in „Simple“ zu positiv dargestellt, und ihre Kapitalismuskritik an der nichtbehinderten Mehrheitsgesellschaft bleibt damit in der Serie verborgen. Dennoch wirft die Serie wichtige Fragen auf, insbesondere was das Thema Zwangssterilisierung angeht. Die ist in zwölf EU-Staaten unter bestimmten Voraussetzungen nach wie vor legal. Solche eugenischen Politiken – also Maßnahmen, die Menschen mit bestimmten, vermeintlich „guten“ Erbanlagen bevorzugen und andere mit vermeintlich „schlechten“ diskriminieren – sind ein wenig diskutiertes Thema im Umgang mit behinderten Menschen.
Ideal für alle …
… die einmal kritisch hinterfragen wollen, was in der Mehrheitsgesellschaft als „normal“ gilt. Empfehlung: Am besten auch den Roman lesen und dann noch einmal neu über die Serie nachdenken.
„Simple“ ist bis zum 15.9. in der ZDF-Mediathek zu sehen.
Fotos: Daniel Escale/zdf