Die chinesische Studentin Dong Wuyuan lebt bereits seit einiger Zeit in Melbourne, als sie im April 2020 einen Videoanruf aus der Heimat erhält. Es meldet sich ein Polizeibeamter mittleren Alters, der ohne Umschweife zur Sache kommt: „Was du auf Twitter gepostet hast, ist absolut unangemessen“, sagt er. Und fügt hinzu: „Ich möchte dir ganz deutlich mitteilen, dass wir deinen Vater hierbehalten.“ Zum Beweis reicht der Ermittler sein Smartphone zu einem älteren Herrn hinüber, Dongs Vater ist tatsächlich auf dem Polizeirevier.
Dong wurde nach der blutig niedergeschlagenen Studentenbewegung vom Tiananmen-Platz 1989 geboren und wuchs als Einzelkind in einem politisch zunehmend repressiven Land auf. Frustriert zog sie 2019 nach Australien, von wo aus sie sich online kritisch über die Kommunistische Partei äußerte. Auf Twitter betreibt sie den Account @FakeNewsOfChina, für den sie zum Beispiel das Gesicht des chinesischen Staatschefs Xi Jinping auf einen tanzenden Mann mit Tangaslip und Bierbauch montierte. Weil sie den Account anonym betrieb, wähnte sie sich in Sicherheit, doch die Ermittler machten ihre Identität ausfindig. Twitter sperrte den Account einige Monate später.
Facebook, Twitter und TikTok – Gefahren für die chinesische Regierung
Dong ist kein Einzelfall: In den vergangenen Jahren hat China die Verfolgung kritischer Stimmen massiv ausgeweitet. Sie sollen nicht nur im eigenen Land schweigen, sondern auch im Ausland. Denn es sind längst nicht mehr nur politische Aktivisten und Aktivistinnen, sondern zunehmend auch gewöhnliche Bürger, die in den Sozialen Medien ihre Stimme erheben und ihre Meinung sagen.
Facebook, Twitter, TikTok: Dass plötzlich jeder und jede seine Meinung frei äußern kann und viele mit ihren Posts mehr Menschen erreichen als die staatlich kontrollierten Medien, wurde von der chinesischen Regierung von Anfang an als Gefahr gesehen. Praktisch sämtliche westliche Apps und Onlinedienste – von Twitter über WhatsApp bis hin zu Google – sind von der Regierung verboten worden.
Die chinesischen Plattformen werden bis heute von kritischen Inhalten „gesäubert“. Wer etwa auf „Baidu Baike“ – dem chinesischen Wikipedia – nach dem 4. Juni 1989 sucht, wird keinen Eintrag über die blutige Niederschlagung der Studentenbewegung finden. Auch die Große Hungersnot unter Mao Zedong wird dort mit wenigen Halbsätzen abgehandelt, als seien die bis zu 50 Millionen Toten nur eine Folge von Dürreperioden gewesen. Und als zu Beginn der Coronapandemie Anwohner aus Wuhan Fotos von überfüllten Spitälern posteten, wurden diese nach wenigen Minuten gelöscht.
Ein falsches Wort – und TikTok und Co. verlieren ihre staatliche Lizenz
Die Internetriesen ByteDance (TikTok bzw. Douyin, wie es in China heißt) und Tencent (WeChat) lassen sämtliche Kommentare mithilfe eines Algorithmus auf Schlagwörter untersuchen. Dann entscheiden „Content-Moderatoren“, ob Inhalte gesperrt werden oder nicht. Schon bei kleinsten Vergehen können die Unternehmen ihre staatliche Lizenz verlieren.
Wie eine aktuelle Recherche der „New York Times“ belegt, ermitteln Chinas Behörden zunehmend auch gegen Staatsbürger im Ausland. In mehreren Fällen hat Pekings Sicherheitsapparat die Identität von Studenten in den USA ermittelt, die auf Twitter mit anonymen Profilen regierungskritische Postings abgesetzt haben. „Ich stehe hinter Hongkong“ reicht aus, um ins Visier der Ermittler zu geraten. Am schlimmsten werden Nutzer und Nutzerinnen verfolgt, die Chinas Parteiführung direkt kritisieren oder politischen Protest organisieren.
Um kritische Kommentatoren im Ausland zu identifizieren, nutzen chinesische Beamte Wählerverzeichnisse, gehackte Datenbanken und Foto-Suchmaschinen. Sind die User erfolgreich ermittelt, werden sie aufgefordert, ihre Postings oder sogar Accounts zu löschen. Wenn sie dies nicht tun, üben die Behörden Druck auf enge Verwandte aus. In einem dokumentierten Fall wurden die Eltern des Betroffenen zehn Tage lang in Untersuchungshaft gesteckt.
Gleichzeitig steckt China viel Geld in Desinformationskampagnen. So werden von der Kommunistischen Partei ausländische Influencer zu Pressereisen in Gebiete eingeladen, in die echte Journalisten aufgrund der systematischen Verfolgung kaum Zugang haben. Die auf diesem Weg inszenierten Videos werden dann von den chinesischen Staatsmedien auf Sozialen Medien sowohl im In- als auch im Ausland verbreitet. Zum Beispiel Videos vom scheinbar friedlichen Alltag der Uiguren, die brutal unterdrückt und in politische Umerziehungslager gesteckt werden. Doch das, so kann man in den Posts lesen, seien lediglich Lügen westlicher Medien.
Am 29.12.2021 meldet sich Dong wieder auf Twitter: „Hallo zusammen, euer Xi Jinping ist zurück!“ Nach der Recherche der „New York Times“ hatte Twitter die Sperrung aufgehoben. Seitdem herrscht allerdings wieder Funkstille auf dem Account.
Titelbild: The New York Times