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Mach hinne

Vom ersten Takt an liefern, damit genug hinhören: Wie Streamingportale den Rap verändern

  • 5 Min.
Illustration: Sebastian Haslauer

„Deutschland säuft krank/Westen oder Osten“: Der Song „Deutschland“ von Ski Aggu und Ikkimel braucht zwei Sekunden, um klarzumachen, worum es geht. Ab der ersten Sekunde stampft ein Technobeat, der Refrain setzt noch vor der ersten Strophe ein und erzählt sehr anschlussfähig vom Saufen und Feiern. Damit ist der Track ein perfektes Beispiel für den Einfluss der Streamingdienste auf Deutschrap.

Streamingdienste bringen 75 Prozent des Umsatzes

Der Markt mit physischen Tonträgern wie CD oder Vinyl ist kaum mehr nennenswert, Geld verdient man mit Konzerten, Merchandise und vor allem durch Streaming. Der Anteil der Streamingportale am Gesamtumsatz durch Musikverkauf lag in Deutschland 2023 bei fast 75 Prozent, Tendenz steigend. Beziehungsweise fallend für kleinere Acts: Die Vergütung pro Stream liegt bei manchen Portalen im Promillebereich. Und immer weniger Künstler und Künstlerinnen kommen überhaupt auf genug Streams, um von den Plattformen ausgezahlt zu werden.

Die arbeiten nach einer sogenannten Superhit-Economy. In der werden nicht die Acts bezahlt, die man als Abonnent oder Abonnentin persönlich hört, sondern die, die insgesamt am meisten gestreamt werden. Das Problem ist nicht, dass Acts „zu klein“ sind, sondern dass sie in diesem Modell nicht verhältnismäßig bezahlt werden.

Ein Stream zählt erst als Stream, wenn der Song mindestens 30 Sekunden läuft. Seit geraumer Zeit ist deswegen zu beobachten, dass Rapperinnen und Rapper ihre Songs mit der größtmöglichen Attraktion einleiten: Die ersten Zeilen müssen zur Sache kommen, die Melodien catchy sein. Lange Intros leisten sich nur noch wenige.

Früher war das anders. Mit „Von der Skyline zum Bordstein zurück“ beginnt eines der erfolgreichsten Bushido-Alben mit einem fast einminütigen Zitat aus dem Thriller „Layer Cake“. Sido moderiert auf seinem Song „Interview“ einen fiktiven Schulradiosender an, auch hier beginnt die Musik erst nach einer halben Minute. Heute wäre so ein Einstieg für viele Acts ein finanzielles Risiko.

Lieber vier Einminüter als einen 4-Minuten-Track

Noch etwas fällt auf: Die Songs werden kürzer. Aus Businesssicht ist es Unsinn, 4-Minuten-Tracks zu bauen, wenn es nur 30 Sekunden braucht, um Geld zu verdienen. Und warum riskieren, dass Fans einen 4-Minuten-Song nicht mögen, wenn man vier Einminüter veröffentlichen kann, unter denen für alle Hörerinnen und Hörer mindestens einer dabei ist? Auf Ski Aggus Album „Wilmersdorfs Kind“ sind nur zwei Songs länger als drei Minuten, auf dem lang erwarteten Debütalbum von Pashanim keiner. Das kann ein Kunstgriff sein oder Berechnung oder beides. Studien zeigen jedenfalls, dass Popsongs im Schnitt 73 Sekunden kürzer sind als noch vor 20 Jahren.

Wie Musik aufgebaut ist, war immer abhängig vom Abspielmedium. Große Konzeptalben wie von Bob Dylan oder David Bowie entstanden überhaupt erst, weil die frühen Vinylplatten nur eine begrenzte Wiedergabedauer boten. So suchten sich die Künstlerinnen und Künstler Songs aus, die thematisch zusammenhingen.

Heute sind Singles wichtiger als Alben: Es geht darum, einzelne Songs zu pushen, statt eine Menge auf einmal zu veröffentlichen. Zu sehen auch bei Ski Aggu: Sechs der 16 Songs auf „Wilmersdorfs Kind“ erschienen vor dem Albumrelease als Single. Einen roten Faden haben sie nicht, jeder Song steht für sich.

Social-Media-Strategie statt Street Credibility

Dazu braucht es die richtige Social-Media-Strategie. Allein TikTok hat ganze Rap-Karrieren begründet: je eingängiger eine Line oder Melodie, desto wahrscheinlicher landet sie in einem Video auf der Plattform. Die entscheidet mit darüber, ob ein Song ein Hit wird und es in die großen Playlists der Streaminganbieter schafft, die die Reichweite multiplizieren.

Ikkimel und Ski Aggu haben schon Wochen vor Erscheinen der ersten Single Fotos veröffentlicht, unter denen ihre Fanbubbles über eine Zusammenarbeit spekulieren konnten, und schließlich Videos, in denen sie zu neuen Songs tanzen. Viral gehen, bevor Songs draußen sind, das funktioniert.

Dieser Text ist im fluter Nr. 93 „Rap“ erschienen

Ob bewusst oder unbewusst: Rapper und Rapperinnen passen ihre Musik solchen Mechanismen an. Und die Streamingdienste verschaffen entsprechend optimierten Songs mehr Aufmerksamkeit als anderen, wodurch die Algorithmen wiederum ähnliche Songs vorschlagen. Ein Kreislauf, der zu vielen Tracks mit wiederkehrender Struktur führt.

Wobei Streaminggrößen wie Ski Aggu, Ufo361 oder Luciano ganz unterschiedlich klingen: Die Acts, die es sich leisten können und wollen, gestalten das Streamingkorsett kreativ und in unzähligen Nischen aus. Musik hat sich immer verändert, ganz wesentlich durch die Technik, mit der sie abgespielt wird. Deutschrap-Einheitsbrei muss also niemand fürchten.

Illustration: Sebastian Haslauer

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.