Kim Areum hatte sich erst nichts dabei gedacht. Dieser Typ in der U-Bahn war ihr zwar aufgefallen, aber sie war gut darin, unangenehme Dinge auszublenden. Außerdem hatte er sie nicht angefasst, wie das andere Koreaner in der Seouler U-Bahn schon getan hatten. Er hatte sie nur aufdringlich angestarrt. Erst als sie zehn Minuten später vor ihrer Wohnungstür stand, fiel ihr der Fleck auf ihrem Rock auf. Sie schaute ihn sich genauer an und sah, dass es Sperma war. Kein Einzelfall in Südkorea – und kein Vergehen, das besonders geahndet wird.
Kim ist heute 36 Jahre alt, verheiratet, hat eine neunjährige Tochter, aber von diesem Ereignis damals erzählt sie noch heute, elf Jahre später. Es war der Moment, der sie zur Feministin machte, sagt sie. „Mir wurde klar, dass es Männer gibt in meinem Land, die denken, sie können sich alles erlauben.“ Kurz nach dem Vorfall trat sie einer studentischen Frauengruppe bei, die von sexueller Gewalt Betroffenen hilft. Sie wollte selbst etwas dafür tun, dass so etwas nie wieder passiert. „Erst durch diese Arbeit habe ich gelernt, wie schwer es Frauen in der koreanischen Gesellschaft haben.“
Eine Statistik zeigt die Problemlage besonders deutlich: das Ranking beim Thema Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Im „Gender Gap Report“ des World Economic Forum landet Südkorea 2022 auf dem 99. Platz von 146 Ländern, hinter den Vereinigten Arabischen Emiraten und Kenia. Überall werden Frauen in Südkorea benachteiligt: Arbeitsmarkt, Bildung, Gesundheit und Zugang zu Ämtern. Zudem ist die Zahl der Gewalttaten auffällig: Pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kam es 2020 zu mehr als 58 Vorfällen von sexueller Gewalt inklusive Vergewaltigungen in Südkorea. In Deutschland liegt diese Zahl bei zwölf.
Das Ministerium für Gleichberechtigung wird vom neuen Präsidenten wieder abgeschafft
Nicht erfasst werden dabei Übergriffe in der U-Bahn und die vermehrten Fälle, bei denen Frauen auf öffentlichen Toiletten und in Hotelzimmern heimlich gefilmt werden. Kim Areum kümmert sich als freiwillige Helferin in einer NGO besonders um solche Fälle von sogenanntem „spy-cam porn“. Sie habe Videos angeschaut, wegen denen die Frauen vor Gericht gehen. „Das war zum Teil wirklich eine verstörende Arbeit.“ Eine Arbeit, die sie davon überzeugt hat, dass Südkorea noch viel aufholen muss. „Es heißt immer, Seoul sei eine der sichersten Städte der Welt“, sagt sie. „Aber für uns Frauen gilt das nicht.“
Um die Rechte der Frauen zu fördern, wurde vor rund 20 Jahren das Ministerium für Gleichberechtigung geschaffen, dessen Gebäude direkt im Zentrum von Seoul steht, gleich beim großen Palast des ehemaligen Königs. Doch obwohl es noch viel für das Ministerium zu tun gäbe, soll es nun abgeschafft werden. Anfang Oktober 2022 machte Präsident Yoon Suk-yeol damit eines seiner Wahlversprechen wahr. In der offiziellen Begründung heißt es, dass es Zeit sei, Diskriminierung „sowohl für Frauen als auch für Männer“ abzuschaffen. Schließlich seien auch Männer im Alltag zunehmend benachteiligt. Als Beispiel zitieren Präsident Yoon und seine Mitstreiter immer wieder den Militärdienst, der für alle Männer verpflichtend ist. Außerdem müssten Männer im Restaurant meistens die Rechnung bezahlen. Vier von fünf Koreanern zwischen 20 und 29 Jahren behaupten, als Mann bereits diskriminiert worden zu sein. Dass Männer in manchen Situationen benachteiligt werden und auch ernst genommen werden sollten, liegt auf der Hand – doch manche nutzen dies als Vorwand dafür, die Entrechtung von Frauen kleinzureden und damit zu billigen.
Yoon hatte schon im Wahlkampf die Nähe von Organisationen gesucht, die die Rechte von Frauen weiter beschränken wollen und die immer offener und lauter auftreten. Darunter die „Neue Männer-Solidarität“, ein loser Zusammenschluss von Südkoreanern, die auf der Straße und im Internet gegen Feministinnen protestieren. Ihr You-Tube-Kanal startete Anfang 2021 und hat derzeit mehr als eine halbe Million Follower.
In diesen Videos spricht sich ihr Anführer Bae In-kyu (der Redner auf dem Foto oben) dezidiert gegen Gleichberechtigung aus und gegen Feministinnen. Die seien „Männerhasser“, und das Streben nach Gleichberechtigung sei eine „psychische Krankheit“. Die Frauen würden sich als Opfer inszenieren und in allen Männern Sexualstraftäter sehen. Die „Neue Männer-Solidarität“ kämpfe für Genderharmonie und gegen einen „weiblichen Chauvinismus“.
Auch Feministinnen sind in Südkorea heute sichtbarer
Der neue Antifeminismus entstand nach einer Zeit, in der Feministinnen öffentlich sichtbarer wurden. Das Buch „Kim Jiyoung, Born 1982“ erschien 2016 und ist inzwischen einer der meistverkauften koreanischen Romane überhaupt, die Verfilmung ein Kassenschlager. Die Autorin beschreibt darin die systematische Benachteiligung von Frauen im Land, vom Kindergarten bis ins Büro.
Gleichzeitig hatte auch die #MeToo-Bewegung Südkorea erreicht. Am prominentesten war der Fall des beliebten Bürgermeisters von Seoul, der jahrelang eine Mitarbeiterin belästigt haben soll. Bevor die Behörden den Anschuldigungen nachgehen konnten, wurde er tot aufgefunden. Es wird davon ausgegangen, dass er infolge der Vorwürfe Suizid beging. Außerdem wehrten sich vor wenigen Wochen südkoreanische Aktivistinnen und Aktivisten lautstark dagegen, dass der 2020 verstorbene Regisseur Kim Ki-duk in Venedig geehrt werden sollte. Kim wurde nach Vorwürfen im Zuge der #MeToo-Debatte wegen Misshandlung und sexueller Handlungen an Schauspielerinnen angeklagt.
Präsident Yoon aber müht sich weiter, die Zeit zurückzudrehen, und kündigte an, die Strafen für falsche Anschuldigungen wegen sexueller Übergriffe zu erhöhen. Damit erfüllt er einen weiteren Wunsch, den Bae In-kyu von der „Neuen Männer-Solidarität“ immer wieder geäußert hatte. Die antifeministische Gruppe greift indes zu immer drastischeren Mitteln. So filmte sich Bae neulich dabei, wie er mit einer Wasserpistole auf Demonstrationen von Feministinnen auftauchte und um sich schoss. Dabei trug er die Clownsmaske des „Jokers“ aus dem gleichnamigen Film, in dem sich der von Frauen zurückgewiesene Protagonist radikalisiert und letztlich einen gewaltbereiten Mob anführt. Unmissverständlich sagte Bae: „Ich bringe sie alle um!“ In einem Videostatement behauptete er später, er habe diese Verkleidung nur gewählt, weil er sonst keine Aufmerksamkeit bekäme. Die verstörenden Videos haben in Südkorea keinen großen Aufschrei ausgelöst, im Gegenteil: Der „Joker“ bekommt nach wie vor viel Unterstützung in den Sozialen Medien.
Bei Kim Areum kommen auch dadurch gerade wieder die Erinnerungen an ihr Erlebnis vor elf Jahren hoch. Auch deshalb, weil bis heute nicht klar ist, welche Flüssigkeit in Baes Pistole war.
Titelbild: Woohae Cho/The New York Times/Redux/laif