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Düstere Aussichten

Seit Januar verbietet eine EU-Verordnung diverse Tattoofarben: Sie könnten gesundheitsschädlich sein. Was bedeutet das Verbot für Tätowiererinnen und Tätowierer?

Tattoo Farben

Ein lang gezogener Schmerz, kurze Verschnaufpause und wieder Schmerz: Tätowierer:innen in Europa fühlen sich in diesen Zeiten wahrscheinlich ein bisschen, als würden sie gerade selbst unter der Nadel liegen – für ein besonders kompliziertes Tattoo. Grund dafür ist eine Neuerung des weltweit strengsten Chemikaliengesetzes, der REACH-Verordnung.

Vor vier Monaten wurde es in der Tattooszene zum ersten Mal finster. „Eigentlich können wir so ziemlich alles machen“, sagte Alex Schildhauer im Januar am Telefon, während im Hintergrund Tätowiermaschinen surrten. „Von Fineline über Realismus mit viel Farbe, Watercolor oder Oldschool.“ Für ein paar Wochen aber war die Auswahl in seinem Münchener Tattoostudio „Surface“ wie in allen Tattoostudios kleiner geworden, denn seit dem 5. Januar verbietet die EU-Verordnung Tausende in den Farben enthaltene Chemikalien. 2023 werden weitere Farbpigmente folgen. Damit fielen für Tätowierer:innen rund zwei Drittel aller Tattoofarben weg. Erlaubt waren dann lediglich noch Schwarz, Grau und Weiß, sofern bis dahin kein gleichwertiger Ersatz gefunden werden konnte. Einen solchen Ersatz bekam das „Surface“ schließlich im März geliefert – von „gleichwertig“ kann aber kaum die Rede sein, kosten doch die verordnungskonformen Farben inzwischen doppelt oder gar viermal so viel wie zuvor. 

 „Vor ein paar Jahren konnte niemand aus der Branche glauben, dass es dieses Verbot geben wird“

Was für Laien einfach nur skurril klingt, ist für viele Tätowierer:innen existenzbedrohend. Einige der rund 4.200 Chemikalien, die seit diesem Jahr verboten sind, sind nicht nachweislich gesundheitsschädlich, sondern einfach noch nicht gut genug erforscht. Für die EU sind die fehlenden Daten ein guter Grund für das Verbot. Doch der Bundesverband Tattoo, bei dem auch Schildhauer Mitglied ist, kritisiert diese Entscheidung. 

Seit zehn Jahren führt Schildhauer gemeinsam mit seiner Kollegin Anne Jandik das „Surface“. Die Änderung der sogenannten „REACH“-Verordnung (kurz für Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe), die bereits 2020 beschlossen wurde und deren Übergangsfrist zu Beginn dieses Jahres ausgelaufen ist, kam für den Studioinhaber dennoch überraschend: „Vor ein paar Jahren konnte niemand aus der Branche glauben, dass es dieses Verbot geben wird.“ Dabei ist die Diskussion um die Gefahren von Tattoofarben nicht neu. Tatsächlich wurde schon 2010 bei einer Untersuchung unter anderem ein Pigment in Tattoofarben gefunden, das für technische Zwecke entwickelt wurde und auch für den Autolack „Ferrari-Rot“ verwendet wird – der nicht mit der Haut in Berührung kommen soll. Auch krebserregende Stoffe hat man mitunter in den Farben entdeckt – zum Beispiel Azofarbstoffe oder Nickel. 

Alex Schildhauer
Alex Schildhauer leitet das „Surface“ und ist vom Nacken bis zu den Zehen tätowiert. Gesundheitliche Probleme hatte er deswegen noch nie

In Schildhauers Studio arbeitet auch Kosta Vergidis. Der 44-Jährige hat sich auf bunte Tattoos im Watercolor- oder Realismus-Stil spezialisiert. Zwischen Januar und März konzentrierte er sich aus Mangel an Farben auf grafische schwarz-graue Motive. Seine Kund:innen wies er schon Monate im Voraus darauf hin, dass er farbige Tattoos mit den alten Farben nur noch bis Anfang Januar fertigstellen würde und keine neuen mehr anfängt: Die Farbtöne der alten und der erwarteten regelkonformen Farben seien so verschieden, dass jeder den Unterschied sofort erkennen würde. Nach Feierabend am 4. Januar haben er und seine Kolleg:innen schließlich kistenweise alte Farben aussortiert, erzählt er. „Wir haben ein paar Tausend Euro in die Tonne gekloppt“, ergänzt Schildhauer. Darunter selbst die Farben, die nur als Muster im Schaufenster ausgestellt waren – aus Sorge vor einer Kontrolle durchs Gesundheitsamt.

„Vielen ist nicht klar, dass man beim Tätowieren ein Implantat einbringt, das im Körper verbleibt“

 

In Deutschland trägt rund jede:r Fünfte ein Tattoo, unter den 20- bis 29-Jährigen ist es laut einer Umfrage des Ipsos-Instituts sogar fast jede:r Zweite. „Vielen ist nicht klar, dass man beim Tätowieren ein Implantat einbringt, das im Körper verbleibt“, sagt Klaus Hoffmann. Sein Job beginnt da, wo sich jemand vom Tattoo trennen muss. Der Hautarzt und Allergologe leitet die Abteilung für ästhetisch-operative Medizin und kosmetische Dermatologie in der Uniklinik Bochum und hat schon Tattoos einiger Tausend Menschen unter die Lupe genommen – und etliche von ihnen entfernt. 

Einige Tattoopigmente, vor allem aus dem roten oder gelben Farbspektrum, können sich an körpereigene Eiweiße binden und Allergien auslösen. Bei jedem Tattoo lasse man sich auf einen Blindflug ein, so der Experte – weil es noch nicht genug wissenschaftliche Daten gibt. Jahrzehntelang sei dieses Experiment bei Millionen unfreiwilligen Teilnehmenden zwar gut gegangen, das ändere aber nichts daran, dass man nicht genau wisse, ob die Chemikalien unter der Haut nicht doch mit der Zeit Krebs erregen oder das Erbgut verändern können. 

Tattoo Farben
Jetzt tut's ganz kurz weh – oder auch lange: Ausschließen lässt sich noch nicht, dass Tattoofarben Krebs erregen oder das Erbgut verändern

Hoffmann betont, dass Tätowierer:innen selten genau wissen können, welchen Ursprung die Inhaltsstoffe ihrer Farben haben – und wohin diese im Körper abtransportiert werden. Eine Untersuchung an Mäusen ergab schon vor einigen Jahren, dass sich in den nächstgelegenen Lymphknoten Rückstände der Farben ansammeln. Umfassende Verträglichkeitsstudien an Tieren hält Hoffmann für eine Lösung. Diese Tierversuche, im Speziellen an Schweinen, wollen aufgrund ihres schlechten Images aber nur noch die allerwenigsten, sagt er. 

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Schildhauer beteuert, dass es im „Surface“ seines Wissens noch keinen einzigen Fall einer schweren allergischen Reaktion gegeben habe. Auch er selbst, vom Nacken bis zu den Zehen tätowiert, habe keine gesundheitlichen Probleme – auch nicht mit seiner Lieblingsfarbe „Crimson-Rot“. Belegen kann er das nicht. Klar ist aber: Die Hygienestandards haben sich in den letzten Jahren gebessert. Und die meisten Tätowierer:innen klären ihre Kund:innen vor dem Termin über Gesundheitsrisiken und Pflege auf.

Der Fortschritt hat einen sperrigen Namen: DIN-Norm EN 17169. Initiiert wurde sie von der Branche selbst: vom Verband Deutscher Organisierter Tätowierer (DOT e.V.) und dem Verband United European Tattoo Artists. „Und trotzdem ist in den Köpfen noch das Vorurteil da, dass Tätowieren im Knast gelernt und in Hinterhöfen betrieben wird“, sagt Schildhauer. 

Die neue und auch die 2023 folgende Verordnung, die die in Dutzenden Farbtönen steckenden Pigmente „Grün 7“ und „Blau 15:3“ zukünftig verbieten soll, findet er hingegen vor allem eins: unfair. Laut Risikobewertung stehen diese zwar im Verdacht, krebserregend zu sein – wenn sie jetzt verboten würden, könnten laut Bundesinstitut für Risikobewertung aber stattdessen Ersatzstoffe verwendet werden, die noch weniger gut erforscht sind und eventuell noch gesundheitsschädlicher wären. „Es gibt eine Reihe an Gütern – Zigaretten oder Alkohol als bestes Beispiel –, an deren Folgen nachweislich jedes Jahr viele Menschen sterben“, sagt Schildhauer seine. Wie rund 180.000 andere haben er und sein Kollege Kosta Vergidis deshalb zum Kippen des Verbots die EU-Petition „Save the Pigments“ unterzeichnet. „Diese Verordnung kann nicht im Sinne des europäischen Gemeinschaftsgedankens sein, da sie weder ihre selbstständigen Unternehmer noch die Konsumenten schützt“, heißt es dort. 

Auch wenn der Frust über die Verordnung groß ist: Wirtschaftlich bedroht sie das „Surface“ bisher nicht. Bei sogenannten Farbrealistiker:innen, die sich auf fotorealistische Motive spezialisiert haben, sieht das anders aus. Manche, so heißt es aus Tätowiererkreisen, tätowieren illegal mit den verbotenen Farben weiter. Andere weichen in die Schweiz aus, wo die Farben noch erlaubt sind.

Tattoofarben
Die neuen Farben sind zwar REACH-konform, kosten aber ein vielfaches – was die Tattoo-Preise in die Höhe steigen lässt

Illegal mit den Farben weiterzuarbeiten kam für Kosta nicht infrage. „Viele von uns Tätowierern sind selbstständig und haben durch Corona eine harte Zeit hinter sich – ich wollte keine Risiken eingehen.“ Die meisten seiner Kund:innen konnten das nachvollziehen und geduldeten sich. Bestellt hat das „Surface“ die „REACH“-konformen Farben des US-amerikanischen Herstellers World Famous Tattoo Ink. – die Reihe heißt „Limitless“ – schon vor Weihnachten. Angekommen sind sie im März – allerdings nicht aus den USA, sondern aus Polen. Wegen der stockenden Logistik aufgrund der Corona-Pandemie warten manche Tätowierer:innen noch immer. 

Also alles wieder gut? Nicht ganz. „Die Farben sind jetzt doppelt bis viermal so teuer. Wir mussten dementsprechend auch die Preise für unsere Kunden nach oben korrigieren“, sagt Schildhauer. Ob die Kund:innen langfristig bereit sein werden, dafür zu zahlen, ist fraglich.

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