Dem Tod, sagt Mean Cheang (Titelbild), sei er nur knapp entkommen. 1979 sei das gewesen, im Dschungel von Kambodscha. Der Tod schoss in Form einer Granate durch die Luft und bohrte sich in seinen Oberschenkel. Cheang, 69 Jahre alt, hockt auf einem blau gestrichenen Boot vor seiner Hütte. Er ist einer von mehreren Zehntausend Menschen, die in einem schwimmenden Dorf auf dem Tonle Sap in Kambodscha leben, dem größten Süßwassergewässer Südostasiens.
Cheang überlebte die Schreckensherrschaft der Roten Khmer, eine Guerillabewegung, die von 1975 bis 1979 das Land totalitär regierte. Er überlebte eine Schusswunde, kämpfte gegen die Vietnamesen, doch gegen den größten Gegner seines Lebens kann er nichts ausrichten: die Zerstörung seiner Heimat.
Der Tonle Sap ist einer der fisch- und artenreichsten Seen der Welt. Er ist Lebensraum und Nahrungsquelle für viele Menschen, die wie Cheang dort in den schwimmenden Häusern wohnen, und viele weitere. Nach Angaben der World Conservation Society Cambodia decken die Tiere aus dem Tonle Sap 60 Prozent des Eiweißbedarfs der kambodschanischen Bevölkerung.
Trotz seiner Bedeutung ist der Tonle Sap durch Klimawandel, Umweltzerstörung und den Bau von Staudämmen bedroht. Das rasante Bevölkerungswachstum des Landes fördert zudem die Überfischung und die illegale Fischerei, was wiederum die Artenvielfalt des Sees gefährdet. Gibt es noch Hoffnung für die Bewohner des Tonle Sap?
„Der Fang heute war schlecht“, sagt Cheang und nimmt einen Fisch, kaum größer als seine Handfläche, aus seinem Korb. Mit dem Finger deutet er auf die Länge seines Unterarms. „Früher waren die Fische so groß.“ Das Leben hier draußen, sagt Cheang, sei noch nie einfach gewesen, aber in den vergangenen Jahren werde es immer beschwerlicher.
Wer die Probleme auf dem Tonle Sap verstehen möchte, muss flussaufwärts blicken. Insgesamt elf große Staudämme hat China seit den Neunzigerjahren entlang des Mekong gebaut, um Energie zu erzeugen. Zwei weitere wurden im Nachbarland Laos errichtet, noch mehr sind geplant.
Das Problem: Die Staudämme beeinflussen das Ökosystem flussabwärts – und schaffen Abhängigkeiten. Schätzungsweise 47 Milliarden Kubikmeter beträgt das Gesamtvolumen, das die größten Staudämme zurückhalten. Das ist fast so viel wie die Wassermenge des gesamten Bodensees. Viel Wasser, das sich als Druckmittel gegenüber dem kambodschanischen Staat einsetzen lässt.
Außerdem beeinflussen die Staudämme den saisonalen Wasserzyklus in der Region: Über den mehr als 100 Kilometer langen Tonle-Sap-Fluss ist der gleichnamige See mit dem Mekong verbunden. Während der Regenzeit steigt der Pegel des Mekong so stark an, dass das Mekong-Wasser rückwärts den Tonle-Sap-Fluss hochfließt, den See um das Vier- bis Fünffache anschwellen und über die Ufer treten lässt. Die Staudämme verkleinern die Überschwemmungsgebiete und verschieben den Zeitpunkt der Rückflüsse. Dadurch gelangen weniger Nährstoffe in die landwirtschaftlich genutzten Uferregionen. Zusätzlich blockieren die Dämme die Wanderung von Fischen, die nun nicht mehr ungehindert ihre Laichgebiete erreichen.
Auch der Klimawandel setzt dem empfindlichen Ökosystem des Tonle Sap zu. Längere Trockenperioden ändern den Überflutungszyklus, die Wassermengen und Niederschläge verringern sich und haben Einfluss auf die Verteilung der Sedimente und die Wanderung der Fische. Auch Stürme und Waldbrände in den Schwemmwäldern am Ufer während der Trockenzeit nehmen zu und erschweren den Menschen in der Region das Leben.
Neben der Hütte von Mean Cheang sitzt Kheng Phanna, ein Junge mit schwarzen Locken und feinen Barthaaren, auf der Veranda eines Gebäudes mit löchrigem Dach, das dem Dorf als Schulhaus dient. Der 16-Jährige ist, wie auch Cheang, auf dem Tonle Sap geboren. Bereits als Elfjähriger half er seinen Eltern beim Fischen. Nachts sammelte er Wasserschnecken, die bei Einbruch der Dunkelheit an die Oberfläche trieben, tagsüber ging er in die Schule. Bis er 14 Jahre alt wurde.
Dann, vor zwei Jahren, erzählt Phanna, habe die Familie vom Fischfang allein nicht mehr leben können. Er sei in die kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh gezogen, um auf einer Baustelle Geld zu verdienen. Seine Tante habe ihm den Job besorgt. Sechs Tage die Woche arbeitete er. 8,50 US-Dollar habe er mit dem Schleppen von Steinen verdient – pro Tag.
Die Arbeit zerstörte seinen Rücken. Seine Mutter habe sich um seine Gesundheit gesorgt, er zog zurück auf den See. Angst bereiten ihm neben dem Mangel an Fischen die Stürme und Trockenperioden, die immer heftiger werden. Wie lange er auf dem See bleiben kann, wisse er nicht. Vielleicht muss er bereits in einem Monat, mit Beginn der Trockenzeit, wieder nach Phnom Penh, zurück auf die Baustelle, damit seine Familie überleben kann.
Zwei Stunden Bootsfahrt und eine Autostunde von Phannas und Cheangs Dorf entfernt steht Thay Sokhim, 23 Jahre alt, in einem Raum voller Plastikkisten und packt Medikamente, Infusionsnadeln und Verbandsmaterial zusammen. Es sind Vorbereitungen für ihre nächste Versorgungstour.
Sokhim ist Krankenschwester bei The Lake Clinic Cambodia (TLC), einer Nichtregierungsorganisation, die sich um die Gesundheit der Menschen auf dem Tonle Sap kümmert. Mehrere schwimmende Hütten und Boote dienen ihnen als Kliniken auf dem See. Auf dem Wasser gibt es kaum staatliche medizinische Hilfe, und die Fahrt in die öffentlichen Krankenhäuser am Ufer ist für viele Seebewohner unbezahlbar.
Sokhim stammt selbst aus einem schwimmenden Dorf. Nach der siebten Klasse zog sie aufs Festland, besuchte eine weiterführende Schule, absolvierte eine Ausbildung zur Krankenschwester und studiert inzwischen berufsbegleitend Biologie. Nach dem Studium, sagt Sokhim, wolle sie auf den See zurückkehren und den Menschen auf andere Art helfen: mit Bildung.
„Ohne Bildung verstehen die Menschen nicht, wie ihre Situation mit dem Klimawandel und den Dämmen zusammenhängt, und können keine Auswege und Lösungen finden“, sagt Thay Sokhim. Viele können sich eine höhere Bildung nicht leisten. Aus ihrem Dorf haben es nur zwei, sie und eine Freundin, an eine Universität geschafft. Deshalb, sagt Sokhim, möchte sie das Wissen, das sie erlernt hat, zurückbringen.
In einem Büro über dem Lager sitzt Jon F. Morgan. Er ist der Gründer von The Lake Clinic Cambodia. „Die Hitze ist ungewöhnlich für diese Jahreszeit“, sagt er und dreht den Ventilator eine Stufe höher. „Eigentlich sollte es erst in sechs Wochen so heiß sein.“ Mitte der 90er-Jahre zog der US-Amerikaner nach Kambodscha und gründete 2007 die TLC. Seitdem kennt er das Leben auf dem See – und sieht, wie es sich verändert. „Wir beobachten eine Zunahme von Alkoholmissbrauch, häuslicher Gewalt und Verzweiflung.“
Doch einfach aufs Land zu ziehen, sei für viele Seebewohner keine Lösung. „Auf dem See können die Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen, arbeiten, sich ernähren. Was können sie hier auf dem Land tun, außer auf einer Baustelle Steine schleppen?“, fragt Morgan. Auch müsse man sich auf dem Land ein Haus oder eine Wohnung kaufen, dafür fehle vielen Seebewohnern die finanzielle Grundlage. Bisher hat sich unter den Seebewohnern kaum Protest formiert. Nur wenige wissen überhaupt von den Staudämmen.
Der Staat versucht mit dem Errichten von Schutzgebieten an den Uferzonen und strikteren Fischereigesetzen die Biodiversität und das Leben im und am Tonle Sap zu schützen. Um das Leid auf dem See zu mindern und die Auswirkungen des Klimawandels abzufedern, so Morgan, müsste jedoch der Durchfluss des Mekong am Oberlauf, dort, wo die Staudämme sind, verbessert werden. Dass das passieren wird und es noch Hoffnung gibt für die Seebewohner, glaubt Morgan nicht. Kurz bleibt er still, dann sagt er: „Ich habe dem See in den letzten 30 Jahren beim Leben zugesehen. Ich fürchte, die letzten Jahre meines Lebens werde ich damit verbringen, ihm beim Sterben zuzusehen.“