fluter.de: Wie habt ihr den Kriegsausbruch am 24. Februar erlebt?
Maris: Ich konnte es nicht fassen. Ich habe Putin schon vorher für verrückt gehalten. Aber dass er wirklich diesen Krieg anzettelt, habe ich nicht gedacht.
Daryna: Ich wollte mich morgens direkt an meine Hausarbeit setzen. Dann habe ich eine SMS von meiner Mutter bekommen. Sie wohnt in der Ukraine. Sie schrieb, dass Putin uns den Krieg erklärt hat. Ich habe sofort Nachrichten eingeschaltet, stand für Stunden wie unter Schock, meine Hände haben richtig gezittert.
Maris: Meine Freundin war auch geschockt. Sie stammt aus Lettland, ist aber ethnische Russin. Sie streitet sich viel mit ihrem Vater, der für den Kreml argumentiert. Sie hält ihm vor, sich von der russischen Propaganda blenden zu lassen, er wirft uns vor, wir wären von westlichen Medien manipuliert. Er behauptet, Putin sei vom Westen zum Krieg gezwungen worden, hätte keine Wahl gehabt. So denken viele russische Migranten.
Wie fühlt sich das gerade an, einen russischen Pass zu haben?
Maris: Ich fühle mich schuldig.
Auch wenn du nicht mehr dort lebst?
Maris: Man trägt doch trotzdem eine Verantwortung für sein Land. Ich habe ein paar Tage gebraucht, um mich bei meinen ukrainischen Freunden zu erkundigen, wie es ihnen und ihren Familien geht. Ich werde gerade oft zu meiner Haltung zum Krieg gefragt. Zum Glück wissen die meisten Freunde und Kollegen, dass ich Putin ablehne und selbst aus Russland geflohen bin.
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Wann war das?
Maris: Vor 20 Jahren. Meine Mutter hat entschieden, mit meinem kleinen Bruder und mir nach Deutschland zu fliehen. Damals führte Russland Krieg in Tschetschenien – unter einem jungen Putin als Ministerpräsidenten. Meine Mutter kommt ursprünglich aus Georgien. Sie hat sich in Russland immer wie eine Fremde gefühlt. Als sie anfing, gegen den Krieg zu demonstrieren, fühlte sie sich nicht mehr sicher. Bei ihr kommt das Trauma der Flucht gerade wieder hoch. Diese Unruhe überträgt sich auch auf uns Kinder. Obwohl ich glaube, die Karriere von Putin wird enden, wie sie begonnen hat: mit einem Krieg.
Daryna, wie bist du nach Deutschland gekommen?
Daryna: Ich komme aus Poltawa in der Zentralukraine. Vor etwa zehn Jahren bin ich nach Göttingen gezogen, um meinen Master in Deutsch als Fremdsprache zu machen. Meine Eltern leben noch in Poltawa. Seit Kriegsbeginn muss ich sagen: leider. Ich mache mir große Sorgen um sie.
Versuchst du, sie zur Flucht nach Deutschland zu überreden?
Daryna: Ich frage sie in jedem Telefonat, wann sie ausreisen. Aber sie sind schon über 70. Wir haben kein Auto, sie müssten also mit einem der Evakuierungszüge fahren, in denen es gerade wegen der Massenflucht kaum freie Plätze gibt. Meine Eltern haben entschieden, in Poltawa zu bleiben. Ich respektiere das und hoffe einfach, dass die Ukraine den Krieg so schnell wie möglich gewinnt. Wir haben auch noch Verwandte auf der Krim.
„Vielleicht regt sich in Russland Widerstand gegen den Krieg, wenn die Lebensmittel knapp werden. Was gibt es noch zu verlieren, wenn man nichts mehr zu essen hat?“
Wie sehen sie den russischen Angriff?
Daryna: Die finden es gut, dass sie zu Russland gehören – und haben den Kontakt mit uns völlig abgebrochen. Dabei waren wir früher, vor der russischen Annexion, in den Sommerferien oft dort. In meiner Erinnerung sieht die Krim noch so friedlich aus wie auf unseren Urlaubsfotos. Die Annexion hat meine Familie getrennt. Seit 2014 waren es schwierige Jahre. Aber gerade ist der Schmerz unendlich.
Gibt es etwas, das gegen diesen Schmerz hilft?
Daryna: Gerade tut mir ein Ehrenamt gut: Ich dolmetsche für ukrainische Geflüchtete am Berliner Hauptbahnhof. Oft treffe ich Frauen mit kleinen Kindern, ältere Leute, Menschen, die hilflos sind. Die Arbeit ist nicht einfach, aber ich bin froh, dass ich helfen kann.
Maris, du arbeitest in einer Obdachlosenunterkunft. Spielt der Krieg dort eine Rolle?
Maris: In der Unterkunft habe ich russische Klienten. Auch welche, die Putin positiv sehen. Mit einem habe ich neulich lange diskutiert. Am Ende hat er geschwiegen. Ich hoffe, dass meine Argumente bei ihm angekommen sind.
Gibt es dort auch Ukrainer?
Maris: Gerade lebt dort einer, der schon vor dem Krieg nach Deutschland gekommen ist. Vor ein paar Tagen kam er blutend in die Unterkunft. Er hat mir erzählt, dass sein Bruder mit Frau und Kindern vor dem Krieg fliehen wollte. Auf der Flucht hat sie eine Bombe erwischt, sie alle sind gestorben. Als er davon erfuhr, war er so außer sich, dass er in Berlin durch die Gegend gelaufen ist und auf Russisch geflucht hat. Das hätten zufällig drei Russen gehört und ihm gedroht, sie würden ihn und sein Land plattmachen. Dann gab es Prügel, erzählte er, drei gegen einen. Ich wusste nicht, was ich sagen soll.
Was wünscht ihr euch von der internationalen Gemeinschaft?
Daryna: Die Menschen im Land brauchen dringend noch mehr Hilfe. Viele Flüchtlinge, die ich treffe, wünschen sich, dass der Luftraum über der Ukraine geschlossen wird, damit Städte und Dörfer vor Luftangriffen geschützt sind.
Eine Flugverbotszone würde die Ukraine vor russischen Luftangriffen schützen. Die NATO will trotzdem kein Flugverbot einrichten: Um es durchzusetzen, müssten NATO-Truppen russische Flugzeuge abschießen, wenn sie das Verbot verletzen. Die NATO stünde dann in einem direkten Konflikt mit Russland, den sie vermeiden will.
Maris: Was die Schließung des Luftraums angeht, habe ich keine klare Haltung. Einerseits sollte sich die NATO da nicht einmischen, zumal Russland von China gedeckt wird. Auf der anderen Seite sieht Putin genau das als Schwäche – und geht dann vielleicht noch weiter. Die Sanktionen finde ich aber richtig. Die EU hat die Aufgabe, sich zu solidarisieren. Womöglich würde es helfen, Sanktionen gegen Personen auszusprechen, die Putin sehr nahestehen. Vielleicht haben sie den Einfluss, um den Präsidenten zu stürzen.
Wie nehmt ihr die Berichterstattung in den deutschen Medien wahr?
Maris: Überwiegend gut. Ich sehe nur die Gefahr, dass manche bei aller angebrachten Kritik an Russland jetzt die USA als heiliges Land darstellen.
Daryna: Ich freue mich sehr, dass wir in Deutschland auch medial unterstützt werden. Seit Kriegsbeginn wird ja auch berichtet, wie man Ukrainern helfen oder wo man sinnvoll spenden kann. Ich finde es toll, dass so auch die Zivilgesellschaft hilft, nicht nur die Politik.
Wer kann den Krieg beenden?
Maris: Putins System ist brüchig. Aktuell führt er Krieg an zwei Fronten: einen militärischen Krieg gegen die Ukraine und einen Informationskrieg gegen sein eigenes Volk. Beide kann er verlieren. Aber im Land sehe ich gerade keine Revolution aufziehen, zumindest keine, die von jungen Leuten ausgeht. Die meisten, die gegen Putin sind und sich öffentlich gegen ihn positioniert haben, sind ins Ausland geflohen. Sie wollen nicht mehr in einer Diktatur leben. Aktuell drohen ja 15 Jahre Haft, wenn man nur von „Krieg“ schreibt oder spricht.
Dann müssen die Alten für eine Revolution sorgen?
Maris: Wenn, dann sie. Vielleicht regt sich Widerstand, wenn die Lebensmittel knapp werden. Was gibt es noch zu verlieren, wenn man nichts mehr zu essen hat? Aber selbst dann sehe ich keine zeitnahe Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine. Dieser Krieg ist nicht zu verzeihen.
Daryna: Viele Familien, die eine russische und eine ukrainische Seite haben, brechen gerade auseinander. Zumindest, wenn eine Seite immer noch auf Putins Propaganda reinfällt.
Dabei waren die Verbindungen immer eng.
Daryna: In den 90er-Jahren gab es in der Nähe von meiner Heimatstadt Poltawa ein Erholungslager für Familien mit Kindern. Dort habe ich als Mädchen in den Sommerferien auch russische Kinder getroffen. Wir haben uns gut verstanden, wir waren uns ja ähnlich: Russland und die Ukraine hatten nach dem Zerfall der Sowjetunion mit schweren Wirtschaftskrisen zu tun. Unser Feind ist Putin, nicht das russische Volk. Trotzdem werden wir Russland lange nicht verzeihen können, was gerade passiert.
Fotos: Nik Afanasjew