Der Libanon ist gebeutelt von Regierungskrisen und einer Wirtschaftskrise. Spätestens nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 haben viele junge Menschen das Land verlassen. Verena El Amil ist geblieben. Sie war eine der jüngsten Kandidatinnen bei den Parlamentswahlen 2022. Gewählt wurde sie nicht – doch noch gibt die heute 28-Jährige die Hoffnung nicht auf.
fluter.de: Frau El Amil, seit Sie auf der Welt sind, kämpft der Libanon schon mit Problemen wie Korruption, Morden und dem nicht aufgearbeiteten Grauen des Bürgerkriegs. Politisiert das, in so einem Land aufzuwachsen?
Verena El Amil: Niemand in meiner Familie ist politisch aktiv. Aber Gerechtigkeit hat mir schon immer viel bedeutet, deshalb wollte ich unbedingt Jura studieren. Erst im Studium habe ich angefangen, mich zu engagieren.
Mit 19 Jahren gründeten Sie mit Freund*innen die Studierendenbewegung Taleb, die heute an vielen Universitäten vertreten ist.
Lange hatten Studierende keinen Einfluss auf das, was auf ihrem Campus passierte, geschweige denn auf nationale Politik. Die Gruppierungen, die bei der Studierendenwahl in meinem ersten Unijahr vertreten waren, setzten keine politischen Belange auf ihre Agenda, und die etablierten Parteien, die auch antraten, hatten keine eigenen Inhalte, sondern diskreditierten nur die anderen. Sie sagten zum Beispiel: „Wenn du uns nicht wählst, errichten die Schiiten eine Moschee in der Uni!“ Ich dachte, die Studierendenwahlen könnten ein gutes Instrument sein, um als junge Menschen mitzubestimmen und eine Vision für unsere Universität und unser Land auszudrücken. Deshalb gründeten wir Taleb.
Wofür setzt sich Taleb ein?
Wir haben uns für mehr Demokratie, soziale Gerechtigkeit und für die Rechte von Minderheiten eingesetzt und gegen die Vermischung von Religion und Politik. Früher war Homophobie auf dem Campus Alltag. Taleb hat angefangen, darauf aufmerksam zu machen und die Studierenden zu sensibilisieren. Im Zuge der Revolutionsbewegung ist das Thema dann noch mal mehr in den Mainstream gerückt, und es ist mittlerweile gängiger geworden, sich zum Beispiel für LGBTQI+-Rechte einzusetzen oder säkularer zu sein.
In den Jahren 2019 und 2020 protestierten dann landesweit Massen gegen die Wirtschaftskrise im Land, gegen Korruption und Konfessionalismus. Ein Hochgefühl für Sie als Aktivistin?
Ich habe so was noch nie gespürt. Es waren Zeiten der Hoffnung und des ultimativen Glücks. Die Stimmung auf der Straße war sehr schön, ich habe gemerkt, dass es echte Solidarität zwischen den unterschiedlichen Menschen im Libanon gibt. Dass es eine Art Versöhnung mit der Vergangenheit geben kann, dass die Menschen vereint sind, vom Süden bis zum Norden, und auch innerhalb Beiruts. Veränderung schien möglich und nah. Wir spürten, dass wir eine Stimme haben und gehört werden. Unsere Juraprofessor*innen sind mit uns auf die Straße gegangen. Plötzlich waren unsere Lerninhalte nicht mehr nur Theorien, sondern wir haben gemerkt, dass sie in der Realität Werkzeuge sein können, um Reformen für eine bessere Zukunft durchzusetzen.
Der damalige Ministerpräsident Hariri ist auf den Druck der Straße hin zurückgetreten, doch dann kam die Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut am 4. August 2020.
Danach war überall Trauer und Wut zu spüren. Am 8. August gab es deswegen noch einmal Demonstrationen, die mit wahnsinniger Polizeigewalt niedergeschlagen wurden. Der Innenminister sagte damals, wir wissen in fünf Tagen, wer verantwortlich ist. Das ist jetzt über dreieinhalb Jahre her. Wir hatten während der Revolution geglaubt, wir könnten Gerechtigkeit einfordern. Die Explosion hat uns wieder daran erinnert, dass wir in einem Land leben, in dem das nicht geht, weil die Politik so korrupt ist. Die Warlords aus der Bürgerkriegszeit sind einfach in die Politik gegangen und führen jetzt jene Parteien an, die für den Staat verantwortlich sind. Unsere Hauptstadt konnte innerhalb von Sekunden zerstört werden, und niemand wird dafür zur Verantwortung gezogen. Im Libanon wird es immer Straflosigkeit geben.
Die Revolutionsbewegung fand so ihr Ende.
Alle meine Freund*innen haben danach das Land verlassen. Sie waren frustriert, dass sich nie etwas ändern wird, und haben resigniert. Wenn ich mir heute Fotos anschaue von Leuten, die damals aktiv waren, ist von ihnen kaum noch jemand hier.
Sie sind geblieben.
Ich bin noch nicht darüber hinweg, dass so viele gegangen sind. Wenn ich mich heute engagiere, dann entweder mit viel jüngeren Leuten, die etwas verändern wollen, oder mit welchen, die so alt sind wie meine Eltern. Meine gleichaltrigen Freund*innen sind in Frankreich, und auch ein Großteil meiner Familie ist nach Deutschland gegangen.
Warum haben Sie den Libanon nicht auch verlassen?
Ich wollte zeigen, dass es noch Hoffnung gibt, dass wir noch immer Teil der Entscheidungsfindung sein können. Deswegen habe ich auch bei den Parlamentswahlen kandidiert. Ich bin nicht gewählt worden, aber dafür 13 andere Abgeordnete, die nicht aus den traditionellen Parteien kommen. Ihr Einfluss ist zwar begrenzt, weil sie keine Mehrheit haben. Aber wir können die Plattform nutzen, um mehr Menschen zu erreichen und für demokratische Reformen zu werben. Es muss eine Kombination aus denjenigen im Parlament und einer aktiven Jugend auf der Straße sein.
Wie sieht Ihr politisches Engagement heute aus?
Ich organisiere Essenslieferungen für einige Dörfer im Süden, die im Grenzgebiet zu Israel liegen und von den Gefechten zwischen Israel und der Hisbollah betroffen sind – auch das, aus dem meine Familie stammt. Und ich bereite ein Schüler*innenparlament vor, bei dem Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Backgrounds und Religionen in Beirut im echten libanesischen Parlamentsgebäude zusammenkommen. Sie sollen simulieren, wie ein Parlament arbeitet. Jede*r sucht sich ein Thema aus, zu dem sie Gesetze erarbeiten. Wir wollen junge Menschen anregen, über Politik nachzudenken, sich Wissen anzueignen und Interesse zu entwickeln. Sie sollen verstehen, wie ein Parlament arbeitet, aber auch, dass sie durchaus etwas zu sagen haben und Veränderung herbeiführen können.
Wie könnte der Libanon der Zukunft aussehen?
Hier in Beirut vergessen wir manchmal, dass es im Süden des Libanon täglich Gefechte gibt. Ein großer Krieg droht, es liegt nicht in unseren Händen, ob er kommt oder nicht. Es geht erst mal nicht um politische Maßnahmen, um Bildung oder darum, wie man den wirtschaftlichen Kollaps aufhält, wenn man das Gefühl hat, wir könnten morgen aufwachen und der Krieg ist im ganzen Land angekommen. Ich denke, wegen dieser unsicheren Zukunft fällt es vielen schwer, darüber hinauszublicken.
Fotos: Stella Männer