Thema: Demokratie

„Ich wollte zeigen, dass es noch Hoffnung gibt“

Viele junge Menschen haben den krisengeplagten Libanon in den vergangenen Jahren verlassen. Verena El Amil ist geblieben, 2022 trat sie bei den Parlamentswahlen an. Hier erzählt sie, was sie antreibt

Interview: Benjamin Weber
14. Mai 2024
Verena El Amil

Der Libanon ist gebeutelt von Regierungskrisen und einer Wirtschaftskrise. Spätestens nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 haben viele junge Menschen das Land verlassen. Verena El Amil ist geblieben. Sie war eine der jüngsten Kandidatinnen bei den Parlamentswahlen 2022. Gewählt wurde sie nicht – doch noch gibt die heute 28-Jährige die Hoffnung nicht auf.

fluter.de: Frau El Amil, seit Sie auf der Welt sind, kämpft der Libanon schon mit Problemen wie Korruption, Morden und dem nicht aufgearbeiteten Grauen des Bürgerkriegs. Politisiert das, in so einem Land aufzuwachsen?

Verena El Amil: Niemand in meiner Familie ist politisch aktiv. Aber Gerechtigkeit hat mir schon immer viel bedeutet, deshalb wollte ich unbedingt Jura studieren. Erst im Studium habe ich angefangen, mich zu engagieren.

Wie es zum Bürgerkrieg kam

Im Libanon leben 18 anerkannte Religionsgemeinschaften. Schiitische und sunnitische Muslime sowie maronitische Christen sind die größten Gruppen, darüber hinaus gibt es griechisch-orthodoxe, griechisch-katholische und andere Christen, Drusen und wenige Juden. Ihre politische Repräsentation ist in einem konfessionellen Proporzsystem gesichert, das bedeutet, die Parlamentssitze sollen je zur Hälfte an Christen und an Muslime aufgeteilt werden. Die Grundlage dafür bildet eine Volkszählung von 1932. Außerdem muss der Staatspräsident maronitischer Christ sein, der Parlamentspräsident schiitischer Muslim und der Regierungschef sunnitischer Muslim.

Bis in die 1970er-Jahre hatten die Christen nach dieser Zählung die meiste Macht, obwohl das irgendwann nicht mehr der Bevölkerungsstruktur entsprach. In dieser Zeit entwickelten sich Machtkämpfe zwischen christlichen Milizen und muslimischen Gruppierungen wie der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, die sich mittlerweile im Libanon etabliert hatte und von dort Israel angriff.

Nachdem 1975 mehrere Christen vor einer Kirche getötet wurden, massakrierten christliche Milizen Palästinenser, und der Bürgerkrieg brach aus. 15 Jahre lang kämpften unterschiedliche religiöse Milizen und Gruppen gegeneinander, 90.000 bis 150.000 Menschen starben. Der Bürgerkrieg endete mit einem Abkommen: Der konfessionelle Proporz sollte schrittweise abgeschafft, außerdem alle Milizen entwaffnet und aufgelöst werden.

Das Abkommen wurde allerdings nicht richtig umgesetzt. Der Konfessionalismus prägt bis heute die libanesische Politik. Auch die Miliz Hisbollah wurde nie entwaffnet, und ehemalige Warlords behielten ihre Macht. Nach einem Amnestiegesetz von 1991 wechselten viele der Warlords in die Politik und sind dort zum Teil bis heute als Parteiführer aktiv. Seit den Parlamentswahlen 2022 ist nur eine geschäftsführende Regierung im Amt, ein Präsident konnte aufgrund der Spannungen nicht gewählt werden.

Mit 19 Jahren gründeten Sie mit Freund*innen die Studierendenbewegung Taleb, die heute an vielen Universitäten vertreten ist.

Lange hatten Studierende keinen Einfluss auf das, was auf ihrem Campus passierte, geschweige denn auf nationale Politik. Die Gruppierungen, die bei der Studierendenwahl in meinem ersten Unijahr vertreten waren, setzten keine politischen Belange auf ihre Agenda, und die etablierten Parteien, die auch antraten, hatten keine eigenen Inhalte, sondern diskreditierten nur die anderen. Sie sagten zum Beispiel: „Wenn du uns nicht wählst, errichten die Schiiten eine Moschee in der Uni!“ Ich dachte, die Studierendenwahlen könnten ein gutes Instrument sein, um als junge Menschen mitzubestimmen und eine Vision für unsere Universität und unser Land auszudrücken. Deshalb gründeten wir Taleb.

Verena El Amil (r.) und ihre Freunde Karl, Sami und Hadi
Wahlkampf 2022: Gemeinsam mit drei Freunden spricht Verena El Amil junge Menschen in einem beliebten Ausgehviertel Beiruts an

Wofür setzt sich Taleb ein?

Wir haben uns für mehr Demokratie, soziale Gerechtigkeit und für die Rechte von Minderheiten eingesetzt und gegen die Vermischung von Religion und Politik. Früher war Homophobie auf dem Campus Alltag. Taleb hat angefangen, darauf aufmerksam zu machen und die Studierenden zu sensibilisieren. Im Zuge der Revolutionsbewegung ist das Thema dann noch mal mehr in den Mainstream gerückt, und es ist mittlerweile gängiger geworden, sich zum Beispiel für LGBTQI+-Rechte einzusetzen oder säkularer zu sein.

In den Jahren 2019 und 2020 protestierten dann landesweit Massen gegen die Wirtschaftskrise im Land, gegen Korruption und Konfessionalismus. Ein Hochgefühl für Sie als Aktivistin?

Ich habe so was noch nie gespürt. Es waren Zeiten der Hoffnung und des ultimativen Glücks. Die Stimmung auf der Straße war sehr schön, ich habe gemerkt, dass es echte Solidarität zwischen den unterschiedlichen Menschen im Libanon gibt. Dass es eine Art Versöhnung mit der Vergangenheit geben kann, dass die Menschen vereint sind, vom Süden bis zum Norden, und auch innerhalb Beiruts. Veränderung schien möglich und nah. Wir spürten, dass wir eine Stimme haben und gehört werden. Unsere Juraprofessor*innen sind mit uns auf die Straße gegangen. Plötzlich waren unsere Lerninhalte nicht mehr nur Theorien, sondern wir haben gemerkt, dass sie in der Realität Werkzeuge sein können, um Reformen für eine bessere Zukunft durchzusetzen.

Die Explosion, die alles verändert

2019 rutscht der Libanon in eine Finanz- und Wirtschaftskrise, die die Weltbank als eine der weltweit schwersten seit Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Das Bankensystem bricht zusammen, die Ersparnisse der Menschen sind weg. Der Staat ist nicht in der Lage, für Grundbedürfnisse zu sorgen, wie zum Beispiel eine funktionierende Stromversorgung. Eine geplante Steuer auf WhatsApp und damit das kostenlose Telefonieren über das Netz löst dann die Proteste im ganzen Land aus. Die Menschen gehen gegen die Regierung und gegen Korruption auf die Straße. Sie fordern eine Abschaffung der konfessionellen Parität in der Politik und einen säkularen Libanon.

Ein knappes Jahr lang ist die Bewegung aktiv, bis zur Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut im August 2020: Ammoniumnitrat, das dort gelagert ist, explodiert nach einem Brand. Ein Großteil der Hauptstadt wird innerhalb von Sekunden verwüstet, ganze Stadtviertel zerstört. Etwa 200 Menschen sterben. Obwohl die Gefahr des gelagerten Düngemittels vielen in Verwaltung und Politik nachweislich bekannt war, werden juristische und politische Aufarbeitungen verhindert. Niemand wird zur Rechenschaft gezogen. Unterdessen verliert die libanesische Währung über 90 Prozent ihres Werts, mehr als die Hälfte der Menschen lebt in Armut.

Der damalige Ministerpräsident Hariri ist auf den Druck der Straße hin zurückgetreten, doch dann kam die Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut am 4. August 2020.

Danach war überall Trauer und Wut zu spüren. Am 8. August gab es deswegen noch einmal Demonstrationen, die mit wahnsinniger Polizeigewalt niedergeschlagen wurden. Der Innenminister sagte damals, wir wissen in fünf Tagen, wer verantwortlich ist. Das ist jetzt über dreieinhalb Jahre her. Wir hatten während der Revolution geglaubt, wir könnten Gerechtigkeit einfordern. Die Explosion hat uns wieder daran erinnert, dass wir in einem Land leben, in dem das nicht geht, weil die Politik so korrupt ist. Die Warlords aus der Bürgerkriegszeit sind einfach in die Politik gegangen und führen jetzt jene Parteien an, die für den Staat verantwortlich sind. Unsere Hauptstadt konnte innerhalb von Sekunden zerstört werden, und niemand wird dafür zur Verantwortung gezogen. Im Libanon wird es immer Straflosigkeit geben.

Die Revolutionsbewegung fand so ihr Ende.

Alle meine Freund*innen haben danach das Land verlassen. Sie waren frustriert, dass sich nie etwas ändern wird, und haben resigniert. Wenn ich mir heute Fotos anschaue von Leuten, die damals aktiv waren, ist von ihnen kaum noch jemand hier.

Sie sind geblieben.

Ich bin noch nicht darüber hinweg, dass so viele gegangen sind. Wenn ich mich heute engagiere, dann entweder mit viel jüngeren Leuten, die etwas verändern wollen, oder mit welchen, die so alt sind wie meine Eltern. Meine gleichaltrigen Freund*innen sind in Frankreich, und auch ein Großteil meiner Familie ist nach Deutschland gegangen.

Verena El Amil bei einem TV-Interview mit dem libanesischen Medienhaus An-Nahar
Und auch das gehörte zum Wahlkampf dazu: Verena El Amil bei einem TV-Interview mit dem libanesischen Medienhaus An-Nahar

Warum haben Sie den Libanon nicht auch verlassen?

Ich wollte zeigen, dass es noch Hoffnung gibt, dass wir noch immer Teil der Entscheidungsfindung sein können. Deswegen habe ich auch bei den Parlamentswahlen kandidiert. Ich bin nicht gewählt worden, aber dafür 13 andere Abgeordnete, die nicht aus den traditionellen Parteien kommen. Ihr Einfluss ist zwar begrenzt, weil sie keine Mehrheit haben. Aber wir können die Plattform nutzen, um mehr Menschen zu erreichen und für demokratische Reformen zu werben. Es muss eine Kombination aus denjenigen im Parlament und einer aktiven Jugend auf der Straße sein.

Wie sieht Ihr politisches Engagement heute aus?

Ich organisiere Essenslieferungen für einige Dörfer im Süden, die im Grenzgebiet zu Israel liegen und von den Gefechten zwischen Israel und der Hisbollah betroffen sind – auch das, aus dem meine Familie stammt. Und ich bereite ein Schüler*innenparlament vor, bei dem Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Backgrounds und Religionen in Beirut im echten libanesischen Parlamentsgebäude zusammenkommen. Sie sollen simulieren, wie ein Parlament arbeitet. Jede*r sucht sich ein Thema aus, zu dem sie Gesetze erarbeiten. Wir wollen junge Menschen anregen, über Politik nachzudenken, sich Wissen anzueignen und Interesse zu entwickeln. Sie sollen verstehen, wie ein Parlament arbeitet, aber auch, dass sie durchaus etwas zu sagen haben und Veränderung herbeiführen können.

Wie könnte der Libanon der Zukunft aussehen?

Hier in Beirut vergessen wir manchmal, dass es im Süden des Libanon täglich Gefechte gibt. Ein großer Krieg droht, es liegt nicht in unseren Händen, ob er kommt oder nicht. Es geht erst mal nicht um politische Maßnahmen, um Bildung oder darum, wie man den wirtschaftlichen Kollaps aufhält, wenn man das Gefühl hat, wir könnten morgen aufwachen und der Krieg ist im ganzen Land angekommen. Ich denke, wegen dieser unsicheren Zukunft fällt es vielen schwer, darüber hinauszublicken.

Fotos: Stella Männer

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