Mit Kreide malen Kinder Traumwelten auf die Straße, Mare Wehrhane kreidet das Gegenteil: die Wirklichkeit, und zwar möglichst genau. Die 26-Jährige arbeitet für den Verkehrsunfalldienst, kurz VUD. Der fährt zu Unfällen mit Personenschaden, also sobald es Verletzte oder Tote gibt, um ein genaues Bild des Unfallhergangs zu rekonstruieren. Die weiße Sprühkreide gehört dabei zu Mare Wehrhanes wichtigsten Arbeitsinstrumenten.
Seit einem Jahr arbeitet sie beim VUD Hannover, einer der wenigen Spezialdienststellen in Niedersachsen. Ein Jahr voller Einsätze, bei denen nicht die Frage ist, ob jemand verletzt ist, sondern wie schwer.
Dienstantritt, 5:15 Uhr. An einem Freitag im Juli übergibt die Nacht- an die Frühschicht, die Kolleginnen und Kollegen verabschieden sich eilig ins Bett. Wehrhane öffnet alle Fenster in ihrem Büro, ein Lichtkegel fällt in den stockdunklen Korridor. Kühle Luft, das erste Morgenlicht, die Nacht war ruhig: Der VUD Hannover musste nicht in den Einsatz.
20 Polizistinnen und Polizisten arbeiten hier, ein Einsatzwagen mit zwei Diensthabenden muss immer bereit sein. Während der Verkehrsstoßzeiten sind es auch mal drei Wagen: Mit der Zahl der Autos auf der Straße steigt die Zahl der Unfälle. In der internen Statistik des VUD erreicht die Unfallkurve zwischen 12 und 18 Uhr ihren Höhepunkt. Die Leute wollen von der Arbeit nach Hause, dazwischen an der Kita und am Supermarkt halten, alles möglichst schnell und müde vom Arbeitstag, das ist Nährboden für Unfälle. An einer Magnetwand im Flur hängen Zeitungsartikel, die den VUD erwähnen. „Mord mit 180 km/h“, „Schaut Fahrer vor Karambolage Comics?“, „Wie gefährlich ist die L310?“ lauten die Überschriften.
361.134 Verkehrsunfälle gab es 2023 in Deutschland mit Personenschaden, darunter 2.839 Tote
„Die Arbeit gibt mir das Gefühl, gebraucht zu werden“, sagt Mare Wehrhane. Für die Beteiligten ist jeder Unfall stressig und überfordernd – egal wie groß der Schaden ist. 2023 hat die Polizei in Deutschland rund 2,5 Millionen Verkehrsunfälle aufgenommen, 361.134 davon mit Personenschaden, darunter 2.839 Verkehrstote. Zwischen Alltag und dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung kann im Straßenverkehr eine halbe Sekunde Unaufmerksamkeit liegen, ein fehlender Schulterblick oder eine Nachricht am Handy.
Um das zu untersuchen, rückt der VUD mit Distanzmesser, Zollstock, Kreide, 3D-Scanner und Kamera an. Auf Grundlage seiner kriminologischen Berichte treffen Gerichte ihre Urteile. In Zivilprozessen werden sie genutzt, um Schadensregulierungen festzulegen, also: Wer bezahlt wem welchen Schaden? Bei Strafprozessen helfen die Berichte, Schuldige zu finden und rechtmäßig zu verurteilen. Regelmäßig sagen VUD-Beamte als Zeugen vor Gericht aus. Oder überbringen Todesnachrichten an Angehörige: Sie können viele Fragen am besten beantworten und sollen verhindern, dass die Familien zuerst in der Presse oder auf Social Media vom Unfall erfahren.
Einmal war Wehrhane dabei, als jemandem die Nachricht vom Unfalltod eines Angehörigen überbracht wurde. In der Polizeiausbildung sei sie darauf nicht vorbereitet worden, sagt sie. Solche Gespräche bräuchten Übung. Wichtig sei es, einfühlsam zu sein und trotzdem professionell, alle Informationen parat haben, auf Fragen vorbereitet sein „und dann klar aussprechen, dass die Person tot ist, aber mit wenigen Details zum Zustand des Leichnams, um keine belastenden Bilder in den Köpfen zu erzeugen“.
Um 8:15 Uhr kommt ein Einsatz rein, gemeldet von einem Streifenwagen: ein Auffahrunfall. Zwei Fahrzeuge, zwei leicht verletzte Personen. Als Wehrhane und ihre Kollegin Julia Schirrmeier vor Ort eintreffen, ist der Krankenwagen schon wieder weg: Eine Knie- und eine Kopfverletzung konnten direkt versorgt werden. Am Unfallort übernimmt Schirrmeier den subjektiven Befund, sie vernimmt die Unfallbeteiligten und Zeugen, und Wehrhane den objektiven Befund, für den alle Spuren auf der Straße, an Autos und im Umfeld aufgenommen werden.
„Ausgangslage ist meist der Endstand der Fahrzeuge“, sagt Wehrhane. Zunächst stelle sie sich die Frage: Wie könnte der Unfall passiert sein? Wehrhane sucht nach Bremsspuren auf der Straße, Anschlagspuren an Leitplanken, Gebäuden, Mauern, Bäumen, Bordsteinen oder Straßenschildern, Wühlspuren im Gras, Kratzspuren an Autos oder Abrieb von schleudernden Reifen oder menschlicher Kleidung. Was sie findet, markiert sie mit der Sprühkreide, schreibt Distanzangaben daneben und fotografiert alles für die Akte.
Das erste Indiz sei meist eine Bremsspur, sagt Wehrhane. „Wenn die fehlt, kann es darauf hindeuten, dass der Fahrer oder die Fahrerin unaufmerksam war.“ Wehrhane hockt sich auf den Asphalt. Sie prüft äußere Umstände wie Glatteis, Regen, tief stehende Sonne oder Tierwechsel. Wehrhane setzt sich selbst in die Fahrzeuge, um zu sehen, welchen Blick die fahrende Person aus ihrer Sitz- und Spiegeleinstellung hatte. In neueren Fahrzeugen kann sie auch die sogenannten fahrdynamischen Daten auslesen, die ungewöhnliches Verhalten anzeigen wie starkes Bremsen, Beschleunigungen oder das Eingreifen des Autopiloten.
Heute haben die Polizistinnen Glück: Die Überwachungskamera eines nahen Gebäudes hat den Unfall aufgezeichnet. Auf den Aufnahmen ist zu sehen, wie ein Auto nach rechts ausschert. Der Fahrer wollte direkt auf die Gegenspur wenden. Der Fahrer des Fahrzeugs hinter ihm dachte, dass das Auto rechts am Straßenrand halten will, beschleunigte, um zu überholen, und beide prallten ineinander.
Über Schuld und Strafe entscheidet später die Justiz
Anhand der Spuren auf Straße und Fahrzeugen hätte sie den Unfall ähnlich rekonstruiert, sagt Wehrhane. Die Details, wie dass der hintere Fahrer versuchte, auszuweichen, oder dass der vordere ohne Ankündigung wendete, hätte sie nicht feststellen können. Bei diesem Unfallhergang, sagt sie, hätten alle Glück, dass nur die Fahrzeuge stark demoliert sind.
Nachdem sie alle Beteiligten befragt hat, verschenkt Schirrmeier einen Stoffteddy an ein sechsjähriges Mädchen, das ohne Kindersitz in einem der Unfallwagen saß. Es wird ihn die restliche Zeit umklammern. Um 9:18 Uhr gibt der VUD das Zeichen zur Räumung des Unfallortes, der Abschleppdienst legt los. Für Schirrmeier beginnt die Schreibtischarbeit: Sie legt die digitale Akte an und verfasst den Unfallbericht. Der soll nicht urteilen, sondern den Hergang objektiv beschreiben. Die Polizistinnen versuchen, den Unfallverursacher festzustellen. Über Schuld und Strafe entscheidet später die Justiz.
Solche leichten Unfälle seien Routine, sagt Mare Wehrhane, zurück im Einsatzwagen. Wenn es über Funk heißt, dass Menschen lebensgefährlich verletzt oder gestorben sind, sei sie weniger ruhig. „Ich würde es als fokussierte Anspannung beschreiben, es kann aber Angst vor grausamen Bildern oder Sorge, etwas Wichtiges zu vergessen, dabei sein.“
Vergangene Woche war sie bei einem Motorradfahrer. Seine Leiche war nach dem Unfall kaum noch als menschlicher Körper erkennbar. „In meinem engen Umfeld gibt es Menschen, die Motorrad fahren“, sagt Wehrhane. „Das macht es noch schwerer.“ Um leistungsfähig zu bleiben, sei es wichtig, die eigenen Gefühle in der Situation wahrzunehmen. Wenn sie merkt, dass Angst aufsteigt, kommuniziert Wehrhane das ihren Kollegen. Manchmal redet sie mit sich selbst, um sich zu konzentrieren, geht im Kopf alle Arbeitsschritte durch, um nichts zu vergessen oder um die Stille am Unfallort zu überbrücken. „Neulich war ich allein mit einer Toten in einem Tunnel“, erzählt sie. „Mit der habe ich laut geredet.“
Bei ihrem ersten Unfall mit Todesfolge kollidierten ein Zug und ein Pkw mit drei Insassen: alle in ihrem Alter, Mitte 20, alle sofort tot. „Ich habe zwölf Stunden gearbeitet, ohne meine Emotionen wahrzunehmen, und zu Hause bin ich zusammengebrochen“, sagt Wehrhane.
„Als Polizistin ist es normal, Tote zu sehen. Als Mare nicht. Dessen muss man sich bewusst werden. Man muss lernen, die Bilder im Kopf ziehen zu lassen“
Den Umgang mit dem Tod lernt man nicht im Studium. Aber es hilft, im Team über das Erlebte zu sprechen. Eine Beratungsstelle bietet Gespräche für Beamte an, die tödliche Unfälle aufgenommen haben. Seit dem Unfall mit den drei jungen Opfern nimmt Wehrhane das in Anspruch, wenn die Unfallbilder oder die Gedanken an die Angehörigen bleiben. „Als Polizistin ist es normal, Tote zu sehen. Als Mare nicht. Dessen muss man sich bewusst werden. Man muss erst lernen, wie man die Bilder im Kopf ziehen lässt.“
Moderne Gesellschaften haben ein Ungeheuer geschaffen, das sich Straßenverkehr nennt. 2023 kamen im Schnitt jeden Tag acht Menschen auf deutschen Straßen ums Leben. Damit sind Verkehrsunfälle die dritthäufigste nichtnatürliche Todesursache, nach Stürzen und Suiziden. Die Arbeit für einen VUD mache einem bewusst, wie viele Situationen Unfallpotenzial haben, sagt Wehrhane. „Ich stehe oft vor einem Unfall und denke: So ist das passiert? Das hätte mir selbst gestern passieren können.“ Wehrhane schüttelt den Kopf.
Dieser Text ist im fluter Nr. 92 „Verkehr“ erschienen
Laut Statistiken gibt es die meisten Verkehrsverletzten und -toten unter den Pkw-Insassen. Die stellten aber auch die Mehrzahl auf den Straßen und seien deshalb häufiger an Unfällen beteiligt, sagt Wehrhane. Für besonders gefährdet hält sie die Verkehrsteilnehmenden, die am wenigsten Schutz um sich haben, am schnellsten übersehen werden oder sich unvorhersehbar bewegen. Wie Fußgänger. Fahrradfahrer. Kinder.
Was den Verkehr sicherer machen könnte? Die Unfallforschung, sagt Wehrhane. Die arbeitet auch mit Daten des VUD und berät Städte und Kommunen, welche Kreuzungen sie verkehrssicherer machen können. Und mehr Technologie. „Das Entertainment im Auto kann ablenken“, sagt Wehrhane. Abstandshalter, Abbiege- oder Bremsassistenten würden die Straßen aber sicherer machen, gerade an Fahrzeugen mit großen toten Winkeln wie Lkw.
Auf dem Rückweg zur Dienststelle läuft im Einsatzwagen der städtische Verkehrsfunk. Die Moderatorin sagt: „Die Straßen sind frei. Fahren Sie vorsichtig!“